Hexer-Edition 08: Engel des Bösen
aber der Kristall war so heiß wie glühende Kohle. Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen, aber ich biss die Zähne zusammen, schloss die Faust nur um so fester um den Stein und konzentrierte mich mit aller Macht auf Shadow.
Ihr Bild erschien in meinem Geist, aber es war sonderbar unscharf und matt, als läge ein unsichtbarer Schleier darüber. Ich verdoppelte meine Anstrengungen.
Der Schleier zerriss und plötzlich sah ich ihr Gesicht so deutlich, als wäre es nur Zentimeter von mir entfernt.
Und ich sah, dass es von Angst verzerrt war.
Gib acht!, schrie ihre Stimme. Du bist in Gefahr! Offne das Tor! Um Gottes Willen, Robert – öffne das Tor!
Das Dumme war nur, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich das bewerkstelligen sollte. Trotzdem versuchte ich es.
Instinktiv dachte ich an ein Tor. Vor meinem geistigen Auge entstand das Bild eines mächtigen, aus eisenbeschlagenen Eichenbohlen gefertigten Burgtores, verschlossen von einem gewaltigen Riegel und dem Staub von Jahrhunderten. Mit aller Macht versuchte ich, dieses Bild zu ändern. Ich wollte das Tor offen sehen.
Ein fast unmerklicher Ruck ging durch das Bild. Der Stein in meiner Hand wurde noch heißer und irgendwo, tief unter der Ebene meines bewussten Denkens, glaubte ich ein zorniges Fauchen zu hören. Ich spürte, dass ich auf dem richtigen Wege war. Wieder konzentrierte ich mich auf das Bild eines Tores und diesmal war der Riegel verschwunden und einer der beiden gewaltigen Flügel ganz leicht geöffnet. Ein Streifen intensiven blauen Lichtes drang zwischen den beiden Torhälften hervor.
Das zornige Fauchen in meinen Gedanken verwandelte sich in einen wütenden Schrei und ich verstärkte meine Anstrengung noch mehr.
Langsam, ganz, ganz langsam, schwang das Tor auf.
Plötzlich änderte sich der gedankliche Wutschrei, wurde zu einem gequälten Wimmern und dann zu einem Hilferuf, der hinaus in die Unendlichkeit hallte.
Und ich spürte, wie er beantwortet wurde …
Etwas Großes, Mächtiges und unglaublich Böses näherte sich der Höhle.
Shadows Warnung erfolgte im gleichen Moment, in dem auch ich das Geräusch hörte.
Es war wie das Zerreißen einer gewaltigen Leinwand, hell und boshaft und so intensiv, dass es wie ein Schmerz in meine Gedanken schnitt. Instinktiv warf ich den Kopf in den Nacken, sah nach oben – und fühlte eisigen Schrecken in mir auffahren.
Dreißig Yards über mir, dicht unter der Decke des Felsendomes, zerriss die Wirklichkeit.
Es sah aus wie eine klaffende Wunde in der Welt, ein schwarzer, zerfranster Riss, aus dem Dunkelheit wie ein verpesteter Hauch hervorquoll. Dahinter regte sich etwas Gewaltiges, Glitzerndes, Großes.
Es war eine Spinne.
Ihr Leib war so groß wie der eines Kalbes und jedes einzelne ihrer zehn mächtigen, behaarten Beine hatte die Dicke eines kräftigen Männerarmes. Ein Dutzend faustgroßer, gefühlloser Kristallaugen starrte voller Bosheit auf mich herab. Für die Dauer eines einzelnen, quälend langen Herzschlages hockte sie reglos am Rand der Spalte und starrte mich an, dann brach sie mit einem gewaltigen Satz vollends aus dem finsteren Riss hervor, landete geschickt auf einer der flimmernden Energielinien und raste mit unbeschreiblichem Tempo heran.
Das Tor! Robert! UM GOTTES WILLEN – DAS TOR!!!
Was folgte, war wie ein Vorgeschmack auf die Hölle. Die Zeit schien stehen zu bleiben und gleichzeitig rasend schnell zu vergehen. Ich sah alles zugleich und nahm trotzdem nichts davon wirklich wahr: Shadow schrie auf, bückte sich nach Lady Audley und breitete mit einer kraftvollen Bewegung die Schwingen aus. Die Spinne raste auf wirbelnden Beinen heran, die Kraftlinien des Energiegewebes wie ein überdimensionales Spinnennetz benutzend. Der Kristall in meiner Hand verwandelte sich in eine Sonne und das Tor vor meinem inneren Auge schwang weiter auf.
Ein dumpfes Knirschen lief durch den Boden.
Der Obelisk wankte. Ich sah das Energienetz wie unter einem Schlag erzittern, bemerkte einen Schatten aus den Augenwinkeln und griff mit meiner geistigen Macht hinauf, zertrennte die Fäden und knüpfte neue Verbindungen. Die Spinne wirbelte heran, wurde von Strängen, die plötzlich anders verliefen, abgelenkt und verfehlte mich um Haaresbreite. Ein wütendes Zischen drang an mein Ohr, dann streifte etwas widerlich Weiches meine Wange und die Riesenspinne verschwand in der Tiefe. Aber ich wusste, dass ich sie nur für Sekunden los war.
Shadow schwebte wie eine gigantische weiße Taube auf mich zu.
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