Hexer-Edition 09: Dagon - Gott aus der Tiefe
geneigte eiserne Gitterkonstruktionen fließend.
Es musste auf Mitternacht zugehen, denn der Mond, der dann und wann hinter den tief hängenden Regenwolken hervorlugte, stand nahezu im Zenit und die Stadt lag wie eine dunkle, formlose Masse hinter uns. Ein geradezu atemraubender Gestank stieg von der Oberfläche des Sammelbeckens auf und verpestete den kühlen Salzwasserhauch, der vom Meer heraufwehte.
Trotzdem erschien mir die übel riechende Luft wie ein kühler Frühlingshauch, nach den mehr als vier Stunden, die ich unter der Erde und bis zu den Knien in Abwässern watend zugebracht hatte. Mehr als einmal während dieser Zeit hatte ich ernsthaft zu zweifeln begonnen, ob wir das Tageslicht überhaupt noch einmal wiedersehen würden. Selbst das schlammverkrustete Becken unter uns kam mir im Moment wunderschön vor, war es doch wenigstens ein Teil der Welt, die ich kannte.
Ich fühlte mich schmutzig wie niemals zuvor in meinem Leben; und ich war es auch. Alles an mir schien irgendwie zu kleben und auf meiner Zunge lag ein Geschmack, als hätte ich versehentlich eine Kuh am falschen Ende geküsst. So absurd es war, sehnte ich mich nach vier Stunden, die ich größtenteils im Wasser watend verbracht hatte, nach nichts mehr als nach einer Badewanne voller Wasser. Voll sauberem Wasser allerdings.
Etwas zwickte mich in den Ellbogen und die Berührung erinnerte mich daran, dass wir noch lange nicht außer Gefahr waren und zwischen mir und der Badewanne noch ein ganzes Becken voller Schlamm und vielleicht noch ein paar Dinge mehr lagen, an die ich lieber nicht denken wollte.
Ich sah auf, begegnete Nemos ernstem, beinahe besorgt wirkendem Blick und sah in die Richtung, in die die dreifingrige Eisenklaue seines sonderbaren Anzuges deutete. Auf der anderen Seite des Sammelbeckens, dicht hinter der Stelle, an der das Wasser ein letztes, gemauertes Wehr durchfloss und sich gurgelnd und schäumend ins offene Meer ergoss, bewegten sich Schatten. Meine Augen hatten Mühe, mit dem silbergrauen Zwielicht der Nacht zurechtzukommen, aber ich musste die Schatten auch nicht wirklich erkennen, um zu wissen, wer dort drüben auf uns wartete. Die Bewegungen der Männer wirkten plump und ungelenk und dann und wann brach sich ein verirrter Lichtstrahl auf ihren Gestalten und ließ sie wie schwarz polierten Stahl aufblitzen.
»Ihre Männer?«, flüsterte ich.
Nemo nickte; jedenfalls nahm ich an, dass das kurze Beben seiner schwerfälligen Tiefsee-Montur ein Nicken sein sollte. »Oui«, sagte er. »Ein wenig zu spät, aber besser spät als gar nicht.« Er seufzte und blickte zum Mond hinauf. Ich war mir nicht sicher, denn sein Gesicht war hinter der schmalen Öffnung des Taucherhelmes nur undeutlich zu sehen, aber ich glaubte, einen raschen Ausdruck von Sorge über seine Züge huschen zu sehen.
»Was haben Sie?«, fragte ich.
Nemo fuhr zusammen, sah mich einen ganz kurzen Moment lang fast schuldbewusst an und rettete sich in ein Lächeln. »Nichts«, log er. »Kommen Sie, mein Freund. Das Boot wartet.«
Hinter uns wurde die Nacht lebendig, als nach und nach auch die anderen Mitglieder unserer verunglückten Expedition aus dem Kanal kamen. Der kleine Trupp bot einen genauso seltsamen wie bemitleidenswerten Anblick. Spears Männer – mit ihm selbst an der Spitze – sahen ungefähr so aus, wie ich mich fühlte, nämlich grässlich. Das Dutzend Marinesoldaten wankte mehr ins Freie, als dass es ging. Kaum einer von ihnen war ohne Blessuren davongekommen und alle waren sie über und über mit Schmutz und glitzerndem Schlamm bedeckt. Und Nemos Männer boten keinen besseren Anblick. Ihre Unterwasserpanzer waren mit Schlamm und fauligem Tang bedeckt und die Last der Kleidungsstücke, für ein anderes Element als die Luft geschaffen, ließ ihre Träger gebeugt und schleppend gehen wie uralte Männer.
Nemo und ich traten zur Seite, um die Männer passieren zu lassen. Der Platz auf dem schmalen, auf einer Seite von einem rostigen Gitter begrenzten Sims über dem Sammelbecken wurde eng, als auch der letzte aus dem Kanal heraus war, und zwei von Spears Männern brachen schlichtweg vor Entkräftung zusammen.
Auch ich spürte Müdigkeit wie eine betäubende Woge durch meine Glieder kriechen. Jetzt, als die Anspannung allmählich von mir abfiel, verlangte mein Körper den Preis für die Stunden der Anstrengung. Was ich fühlte, war die normale, körperliche Erschöpfung, die mit der Erleichterung, einer drohenden Gefahr entronnen zu sein,
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