Hexer-Edition 11: Der achtarmige Tod
nach oben deutete, auf das offen stehende Turmluk.
»Gehen wir hinauf, um unsere Besucher zu empfangen«, sagte er.
Ein kalter, nach Salzwasser riechender Wind schlug ihnen entgegen, als sie die schmale Eisenleiter hinaufstiegen. Die Van Helsing kam so rasch näher, dass sie schon bald ohne Glas deutlich zu erkennen war.
»Wieso ist es so schnell?«, wunderte sich Howard. »Wir haben beinahe Windstille.«
Nemo antwortete nicht, aber Howard sah deutlich, dass ihm das Tempo ebenso wenig gefiel. Der scheinbar geradewegs von einem Schiffsfriedhof stammende Segler schoss mit der Geschwindigkeit eines Schaufelraddampfers heran. Unter seinem Bug spritzte das Meer auf. Das Segel war so straff gespannt, dass Howard glaubte, die Taue singen zu hören.
»Ich verstehe das auch nicht«, murmelte Nemo. »Aber wir können den Kapitän ja fragen.« Er zögerte, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen und beugte sich plötzlich zum Luk hinunter.
»Rufen Sie die Besatzung zusammen, Jacques«, rief er zu dem wartenden Matrosen hinab. »Und geben Sie Befehl, die Maschinen anlaufen zu lassen. Halbe Gefechtsbereitschaft.«
Howard erschrak.
»Dieses schwimmende Wrack gefällt mir nicht«, sagte Nemo, mehr zu sich selbst als an Howard gewandt. »Kein Schiff dürfte so schnell sein.« Sein Blick löste sich für einen Moment von der Van Helsing und tastete über die gewaltige Flanke der Zuidermaar, die wie ein schwimmender Berg neben der NAUTILUS ruhte. Auch dort war die Van Helsing bemerkt worden: Matrosen drängelten sich an der Reling, einige kletterten auch in die Wanten hinauf und schließlich erschien die hochgewachsene, in dunkles Marineblau gekleidete Gestalt Kapitän Harmfelds.
»Ahoi, Zuidermaar!«, rief Nemo in bester Seefahrermanier. »Kennen Sie dieses Schiff, Kapitän?« Harmfeld nickte und rief etwas, aber seine Antwort ging im Rauschen der Wellen und dem Wind unter und Nemo wandte sich enttäuscht ab.
Die Van Helsing hatte ihren Abstand inzwischen stetig verkürzt, sodass auch mit bloßem Auge Einzelheiten zu erkennen waren. Wie auf der Zuidermaar drängelten sich auch hinter ihrer Reling Männer; allerdings keine Marinesoldaten, sondern ein zusammengewürfelter Haufen der abenteuerlichsten Typen.
»Mir ist nicht wohl dabei«, murmelte Nemo. »Am liebsten würde ich tauchen und diesem Wrack meinen Rammsporn zu schmecken geben.«
Howard schüttelte den Kopf, antwortete aber nicht darauf. Er wusste, dass Nemo seine Worte nicht ganz so ernst gemeint hatte, wie sie sich vielleicht anhörten – aber er konnte seine Gefühle auch sehr gut verstehen. Das Schiff und seine Besatzung schienen geradewegs einem schlechten Piratenroman entsprungen zu sein. Jedenfalls kam es ihm so vor.
Die Van Helsing verlor jetzt rasch an Geschwindigkeit, schwenkte schließlich in einem weiten Bogen herum und kam – mit einer Präzision, die bei einem solchen Schiff schlechterdings unmöglich war – dicht neben der NAUTILUS zum Halten. Unter die Männer hinter der Reling kam plötzlich Bewegung, dann drängte sich ein fettleibiger Glatzenzwerg an die Bordwand, beugte sich zur NAUTILUS herab – wozu er sich auf die Zehenspitzen stellen musste – und brüllte aus Leibeskräften:
»Ahoi, NAUTILUS! Ich komme an Bord!«
Nemo blieb nicht einmal Zeit, seine Überraschung zu überwinden, da begann der Gnom auch schon geschickt wie ein Affe an der Bordwand hinabzuklettern, ließ sich auf dem letzten Stück schlichtweg fallen – und kraulte wie eine fettleibige Qualle auf das Unterseeboot zu!
Howard ächzte. »Ich verstehe ja nicht viel von Seefahrt«, sagte er, »aber das scheint mir nicht die übliche Art, von einem Schiff aufs andere überzuwechseln.«
Nemo schüttelte ernst den Kopf. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, schien er den Vorgang nicht halb so komisch zu finden wie Howard. Im Gegenteil. Sein Misstrauen war noch gestiegen.
»Komm mit«, sagte er wortkarg. Er drehte sich herum, stieg die Schräge zum Mitteldeck herab und winkte Howard ungeduldig, ihm zu folgen.
Als Howard hinter Nemo auf das Deck der NAUTILUS hinaustrat, spürte er ein leises Zittern unter den Füßen; die Maschinen des Unterseebootes waren angelaufen.
Weder er noch Nemo machten Anstalten, dem Zwerg zu helfen, als er auf die glatten Stahlplanken der NAUTILUS hinaufzuklettern versuchte. Howard betrachtete sich den sonderbaren Besucher genauer. Der Mann war wirklich ein Zwerg, wenig mehr als anderthalb Meter groß, aber beinahe ebenso breit.
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