Hexer-Edition 15: Der Koloss von New York
nahm einen Bogen Papier, faltete ihn auseinander und legte ihn vor mich hin. Es war ein Extrablatt der London Times vom heutigen Tag; dem 9. Juli 1886. Die Schlagzeile brannte wie mit feurigen Lettern in meinen Augen:
MYSTERIÖSER LEICHENRAUB IN SAINT JOHN
»Das kam heute in der Früh«, sagte Howard hinter mir. Seine Stimme klang verzerrt und falsch in meinen Ohren. »Rowlf hat ein Exemplar geholt, während du dich umgezogen hast. Aber da konnte ich die Zusammenhänge noch nicht erkennen.«
Mit fliegenden Fingern riss ich das Blatt an mich und überflog die Meldung. Über zwanzig Gräber waren geöffnet worden, die Leichen verschwunden. Drei Männer hatte man tot auf dem Gelände des Leichenackers aufgefunden; zwei Figuren der Londoner Unterwelt und den Friedhofswärter. Die Polizei tappte völlig im Dunkeln. Nicht allein die Sinnlosigkeit des Verbrechens stellte Scotland Yard vor ein Rätsel, zudem hatte man keinerlei Spuren wie Schaufeln oder Fußabdrücke finden können. Die Bande schien sich geradewegs in Luft aufgelöst zu haben. Und mit ihr die Toten.
Ich sah zu Howard auf. Ein Hoffnungsschimmer war an meinem Horizont der Verzweiflung aufgetaucht. »Wenn das hier wirklich mit dem Golem und der Prophezeiung zusammenhängt«, fragte ich, »warum greifen sie nicht an? Warum nehmen sie keine Rache, wie es geschrieben steht?«
Howard zog eine seiner schwarzen Zigarren aus der Westentasche und zündete sie an. Tiefe Falten entstanden auf seiner Stirn, während er nachdenklich einige Züge tat. »Ich kann nur vermuten, dass sie sich erst sammeln«, sagte er schließlich. »Irgendwo außerhalb Londons, wo niemand sie aufspürt. Sie sammeln ihre Armeen, Robert. Erst wenn sie stark genug sind, werden sie gegen London ziehen. Und dann wird sie niemand mehr aufhalten können. Es sei denn …«
»Was?«
»Und nur der Tod des Toten kann die Götter besänftigen und die Armeen des Bösen zurückwerfen in die ewige Verdammnis«, zitierte er aus dem Buch. »Wir müssen den Golem vernichten, Robert. Und das schnell, sonst sind wir alle verloren.«
Ich ballte die Fäuste und starrte auf die lateinischen Lettern. »Wieviel Zeit bleibt uns, Howard? Und wie können wir ihn unschädlich machen?«
»Zeit?« Seine Stimme klang seltsam abwesend; fast, als hätte er meine Worte gar nicht gehört. Als ich mich umwandte, sah ich, dass er wieder auf das Buch starrte. »Ich weiß es nicht«, fuhr er fort. »Vielleicht bleibt uns nur diese Nacht.«
»Und wie können wir ihn töten?«, wiederholte ich meine zweite Frage. »Gibt es einen Hinweis darauf in dem Buch?«
Er drückte die erst halb gerauchte Zigarre im Aschenbecher aus und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. »Ich habe dir die Passage noch nicht vollständig übersetzt«, sagte er dann mit leiser Stimme. Ich ahnte seine nächsten Worte schon voraus, noch ehe er sie aussprach.
»Doch wie soll Tod aus Tod entstehen? Was nie gelebt, kann niemals sterben. Ist der Golem erst geschaffen, so kann nur eine Macht ihn noch bezwingen, die stärker ist als die des Körpers …«
Er klappte das Buch zu und sah mich an.
»Dein magisches Erbe, Robert«, sagte er. »Du allein kannst ihn vernichten.«
Als ich die Treppe zu meinen Zimmern hochstieg, um mich dort noch einige Stunden auszuruhen – es war jetzt elf Uhr und wir würden am späten Nachmittag aufbrechen –, fühlte ich Wut und Hilflosigkeit in mir. Damals hatte ich mir geschworen, die gewaltigen magischen Kräfte, die einer schlafenden Bestie gleich tief in mir lauerten und anderen Menschen nur Unglück und Leid brachten, aus meinem Geist zu verbannen, doch schien es, als wolle das Schicksal mich immer und immer wieder daran erinnern, dass ich ein Hexer war, der Sohn Roderick Andaras, des Magiers von Salem. Dass ich anders war, auf ewig mit dem Fluch belegt, niemals Ruhe zu finden vor den bösen Mächten, die mich verfolgten und meine Geschichte bestimmten.
Wieder sollte ich die Macht aus meiner Seele heraufbeschwören, um Menschenleben zu retten, und wieder wusste ich nicht, ob ich damit nicht gerade das Gegenteil bewirken und Menschen ins Verderben stürzen würde.
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht bemerkte, wie die Stangen, die den Teppich auf der Treppe hielten, sich lösten. Nicht eine allein, sondern die ganze Reihe bis hinauf zur obersten Stufe!
Als ich den Halt verlor, war es bereits zu spät, um noch zu reagieren. Ich verlor den Boden unter den Füßen, schlug mit dem Oberkörper auf die
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