Hexer-Edition 19: Der abtrünnige Engel
durchbohren.
»Ein Überfall der Ancen-Leute!«, rief sie laut. »Wir müssen kämpfen!«
Die Wirkung ihrer Worte war ganz genau die, die sie sich erhofft hatte: Die Adepten blickten sie aus furchtsam aufgerissenen Augen an, wurden bleich, begannen erschrocken durcheinander zu reden. Selbst die, die gestürzt waren, rappelten sich erschrocken wieder auf. Niemand nahm Notiz von dem sterbenden Magier.
Mereda machte eine befehlende Geste und eilte zum Portal. Der Krieger und die neunzehn jugendlichen Magier folgten ihr.
Als sie das Tor durchschritten und die Treppe vor ihnen lag, hörten sie bereits Schreie aus den Tiefen des Turmes heraufdringen.
Hässliche Gedanken und Vorstellungen begleiteten mein Erwachen. Gedanken voller Wahnsinn und der Nähe des Todes. Dann kämpften sich langsam die ersten Erinnerungen aus den hintersten Winkeln meines Bewusstseines. Aber sie blieben unklar, vermischten sich zu einem Durcheinander, das mich eher noch tiefer verwirrte.
Ich konnte mit den Begriffen Mereda, Madur und Conden-Turm im ersten Moment nichts anfangen, ganz abgesehen von der verrückten Idee, ich würde mich auf dem Grund des Ozeans befinden. Allein Sill war für mich real. Zwar verspürte ich bei dem Gedanken an sie eine ungewisse Furcht und Unruhe, doch erwartete ich sie beim Erwachen neben mir zu sehen.
Ein scharfer, nicht genau abgegrenzter Schmerz irgendwo in der unteren Hälfte meines Leibes machte mich wieder auf meinen Körper aufmerksam. Mir war kalt, entsetzlich kalt. Ich fühlte eine Schwäche, die fast die Grenzen echten körperlichen Schmerzes erreichte. Unbewusst hob ich die Hand und versuchte mein Gesicht zu berühren, aber selbst für diese kleine Bewegung fehlte mir die Kraft. Es bereitete mir ungeheuere Mühe, auch nur die Augenlider zu heben. Zuerst sah ich nichts als einen dunklen Nebel, der sich ganz langsam lichtete. Dann jedoch erkannte ich, dass meine Hand voll Blut war.
Diese Erkenntnis überraschte mich, denn ich konnte mich nicht erinnern eine Wunde erhalten zu haben. Ich durchsuchte mein Gedächtnis genauer und erhielt dabei Antworten, die so verrückt und phantastisch waren, dass ich sie im ersten Moment unter dem Stichwort Albtraum ablegen wollte. Dann fiel mein Blick auf die dunkel gekleidete Frau, die neben mir stand. Eine sehr alte Frau. Ihre kleinen Augen waren unnatürlich geweitet. Aus ihren Blicken sprach Hilflosigkeit und eine abgrundtiefe Furcht. Und Mitleid.
Es stimmte also. Es war kein Traum. Ich war diesen Conden-Leuten, die mich meiner Kräfte und meines Lebens berauben wollten, in die Falle gegangen. Und Sill befand sich in der Hand der Ancen-Krieger, die sicher keinen Deut besser waren als Madur und die Hexe Mereda. Hatte ich wirklich für eine Weile daran geglaubt, dass diese Verrückten auch nur im Traum daran dachten, uns zu helfen?
Der Zorn, mit dem mich dieser Gedanke erfüllte, gab mir für einen Moment neue Kraft. Ich setzte mich auf, spürte aber sofort wieder Schwäche und Schwindel und verbarg das Gesicht in den Händen.
Als ich wieder aufsah, war die alte Frau neben mir in die Hocke gegangen. Ihr Blick war … seltsam.
Die Furcht und das Mitleid und die Verwirrung waren noch immer darin – und noch etwas.
Etwas, das mich schaudern ließ.
Langsam, zitternd vor Furcht, hob sie ihre dürre Hand, streckte den Arm aus und berührte mich mit den Fingern an der Wange, ganz kurz nur.
»Du … du bist es«, murmelte sie.
»Natürlich bin ich es«, antwortete ich, nahm die Hände herunter, sah sie verwirrt an und fügte hinzu: »Wer?«
»Du!«, wiederholte die Alte. »Du bist es. Du … du bist gekommen …« Ihre Augen wurden groß. »Und Mereda hat … Bei allen Göttern, was hat sie getan?«
Ich verstand kein Wort – ich versuchte es auch gar nicht erst –, sondern schloss für einen Moment die Augen, stützte mich mit den Handflächen auf den Steinfliesen ab und versuchte mich wieder hochzustemmen.
Mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor. Ich hatte nicht mehr die Kraft. Was immer die Conden-Zauberer mit mir gemacht hatten – es hatte mich aller Energie beraubt. Ich fühlte mich kaum in der Lage die Augen offen zu halten.
»Warte«, sagte die Alte. Sie stand auf, kam einen Moment später zurück und reichte mir eine Schale mit einer heißen, übel riechenden Flüssigkeit.
»Trink«, sagte sie.
Ich zögerte. Die Brühe stank widerwärtig. Aber die Alte lächelte so freundlich, dass ich jeglichen Gedanken an Gift und Heimtücke fast schuldbewusst
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