Hexer-Edition 19: Der abtrünnige Engel
von Robert? Was ist mit ihm? Lebt er? Geht es ihm gut?«
Sill nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf.
»Keine Nachricht«, erklärte sie. »Ich … bin mit Robert zusammen nach London gekommen, aber dann …«
Mit knappen Worten schilderte sie den Überfall. »Als ich wieder zu mir kam, beugte sich ein unbekannter Mann über mich. Ich konnte ihn vertreiben, aber Robert war verschwunden«, schloss sie.
Ungläubig lauschte Howard ihren Worten. Er wusste nicht, ob er sich freuen sollte, oder nicht. Immerhin war Robert entgegen allen Befürchtungen gesund nach London zurückgekehrt, auch wenn er hier direkt wieder in die Bredouille geraten war.
»Und Sie haben keinen Anhaltspunkt, wo Robert sich jetzt befinden könnte?«
Sill schüttelte den Kopf. »Wenn ich einen hätte, dann wäre ich nicht hier, sondern würde bereits nach ihm suchen.«
»Na, gut, dasse stattdessen hergekommen sin, Kindchen«, sagte Rowlf gutmütig. »London is ne verdammt gefährliche Stadt für so ’ne junge Frau ganz allein.«
»Ach ja?«, entgegnete Sill und lächelte. Aber es wirkte eigentlich nicht erschrocken, fand Howard. Ganz im Gegenteil, der Blick, den sie Rowlf zuwarf, war beinahe …
Ja, dachte er, beinahe mitleidig.
Das riesige Gewölbe wurde vom flackernden Licht einiger Fackeln nur notdürftig erleuchtet. Der Lichtschein brach sich an den rauen Wänden und den Stützpfeilern, verfing sich an Kanten und Vorsprüngen und warf bedrohlich anmutende Schatten, die von einem unheimlichen Eigenleben erfüllt schienen. Dahinter lauerte wie ein zum Sprung bereites Raubtier die Dunkelheit, die in den Tiefen des Gewölbes nistete und unablässig an den faserigen Rändern der hellen Oase nagte.
Es war feucht hier unten; kleine Wasserrinnsale liefen an den mit weißlichen Salpetergespinsten bedeckten Wänden herab und versickerten im Boden. Ein muffiger Geruch nach Moder und Schimmel erfüllte die Luft. Die Stille wurde nur vom gelegentlichen leisen Platschen eines fallenden Wassertropfen und dem leisen Knistern der Fackeln unterbrochen, wenn ein scheinbar aus dem Nichts kommender Windhauch sie zum Erlöschen zu bringen drohte.
Jennifer Corland zerrte an ihren Fesseln. Die dünnen Schnüre schnitten in ihre Haut, aber sie waren zu fest, um sie zerreißen zu können, und die Knoten waren fachmännisch geknüpft. Ihre Handgelenke schmerzten, als ob jemand eine brennende Fackel daran halten würde. Die Haut war bereits völlig aufgerissen und bei jeder Bewegung schnitten die Fesseln tiefer ein.
Immer wieder blickte die junge Frau zu dem schwarz gekleideten dunkelhaarigen Mann, der einige Schritte von ihr entfernt auf dem Boden saß. Er wandte ihr den Rücken zu, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Immerhin konnte sie erkennen, dass es sich nicht um den Unhold mit dem grässlich verzerrten Gesicht handelte, der sie überfallen und hergeschafft hatte. Der Mann vor ihr war schlank und groß, fast hager, und seine Haltung drückte nichts von der animalischen Wildheit des monströsen Kretins aus.
Seit sie vor ein paar Minuten aus ihrer Ohnmacht erwacht war, saß er in dieser unnatürlich steifen Haltung da. Die ganze Zeit über hatte er sich nicht einmal bewegt. Wenn er etwas von ihren Befreiungsversuchen merkte, ließ er es sich nicht anmerken. Wahrscheinlich wusste er, dass sie die Fesseln nicht abstreifen konnte und hielt es deshalb nicht für nötig auf ihre sinnlosen Versuche zu reagieren.
Verbissen kämpfte Jennifer gegen den Schmerz an und zerrte mit der Kraft der Verzweiflung weiter an den dünnen Schnüren. Sie wusste nicht, was man von ihr wollte und warum man sie hierher gebracht hatte (wo immer dieses hier auch sein mochte), aber es würde sicherlich nichts Angenehmes sein. Irgendwie musste sie sich befreien. Wenn der Mann sie weiterhin nicht beachtete, konnte sie ihn möglicherweise von hinten überwältigen. Ihr war bewusst, wie gering diese Chance war, aber dennoch klammerte sie sich wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm an die vage Hoffnung, weil es die einzige war, die sie hatte. Zugleich lenkte sie ihre Gedanken damit von dem Wahnsinn ab, der bereits nach ihr griff und sie zu lähmen drohte.
Immer wieder musste sie kurze Pausen einlegen, weil der Schmerz übermächtig wurde. Sie fühlte warmes Blut über ihre Hände rinnen und unterdrückte mühsam ein Stöhnen, um den Unbekannten nicht doch auf sich noch aufmerksam zu machen.
Ein metallisches Scharren ließ sie aufschrecken. Schwere Schritte klangen
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