Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
vormittags betrachtete ich als vorsätzliche Körperverletzung. Überhaupt war ich schon vor Jahren zu der Überzeugung gelangt, dass der Mensch in Wahrheit ein nachtaktives Geschöpf ist und Tageslicht nicht nur ungesund ist, sondern auch dem natürlichen Lebensrhythmus unserer Spezies zuwider.
»Das macht nichts«, sagte ich. »Wir kommen schon zurecht.«
Cordwailer spießte mich mit Blicken regelrecht auf, aber er sagte nichts mehr, sondern bedeutete uns mit rüden Gesten, an einem der Tische Platz zu nehmen. Dann knurrte er, dass wir uns noch einen Moment gedulden sollten; er müsse rasch nach den Zimmern sehen und sich überzeugen, dass die Bettwäsche noch sauber sei. Ich dachte daran, dass McGillycaddy uns erzählt hatte, dass er die Zimmer das letzte Mal vor Jahren vermietet hätte, zog es aber vor den Mund zu halten und setzte mich.
McGillycaddy wechselte noch ein paar belanglose Worte mit Cordwailer, dann verabschiedete er sich und ging und auch Cohen nahm neben mir Platz. Der Stuhl ächzte hörbar, als er sich darauf sinken ließ, und Cohen erstarrte für eine Sekunde mitten in der Bewegung. Äußerst behutsam führte er sie zu Ende, hielt sich aber vorsichtshalber mit beiden Händen an der Tischkante fest, falls der Stuhl doch noch unter ihm zusammenbrechen sollte. Nicht, dass der Tisch einen wesentlich stabileren Eindruck gemacht hätte.
»Was für eine Bruchbude«, sagte er kopfschüttelnd – aber vorsichtshalber erst, nachdem Cordwailer den Raum verlassen hatte. Wir hörten ihn irgendwo über unseren Köpfen lautstark herumpoltern.
»Ja. Aber sie passt hierher.« Ich nickte und sah mich mit gerunzelter Stirn ein weiteres Mal um. »Ich habe ja schon viel erlebt – aber eine Stadt wie diese noch nie.«
»So?«, fragte Cohen. »Was haben Sie denn schon so alles erlebt, Roderick?«
Ich setzte zu einer Antwort an, klappte den Mund aber dann wieder zu, als ich das spöttische Glitzern bemerkte. Cohen nannte mich abwechselnd Robert und Roderick – wahrscheinlich war das seine Art, mir zu verstehen zu geben, was er von meiner Geschichte über den so plötzlich aufgetauchten Zwillingsbruder aus Amerika hielt. Wieder einmal war ich nahe daran, ihm die Wahrheit zu sagen (er wusste sie ohnehin), und wieder besann ich mich im letzten Moment eines Besseren. Menschen waren manchmal komplizierte Individuen – wir wussten beide, wie haarsträubend die Geschichte war, die ich ihm und dem Rest der Welt aufgetischt hatte, und wir taten seit gut zwei Wochen unser Bestes, dem jeweils anderen glaubhaft zu machen, dass wir ihm sein Pharisäerlächeln abnahmen.
»Nichts«, sagte ich nach ein paar Augenblicken. »Es war nur so eine Redensart.« Ich wechselte das Thema: »Vielleicht war es wirklich nur eine Verwechslung.«
Cohen sah mich verständnislos an.
»Die Information über Crowley«, erklärte ich. »Ein Irrtum, möglicherweise.«
»Scotland Yard unterlaufen keine Irrtümer.« Cohen zog eine Grimasse. »Jedenfalls nicht solche.«
»Aha«, sagte ich.
»Die Information war zu eindeutig«, beharrte Cohen im Ton einer trotzigen Verteidigung. »Im Ernst, Robe … ich meine Rode –«
»Wie wär’s mit Roberick?«, witzelte ich.
Cohen fand das anscheinend nicht sehr komisch. Seine Blicke wurden eisig. »Ein Irrtum ist ausgeschlossen«, wiederholte er. »Die Nachricht war sogar namentlich an mich gerichtet. Der von Ihnen gesuchte Rev. Crowley befindet sich zurzeit in Brandersgate, Schottland. Gezeichnet Constabler McGillycaddy«, zitierte er.
»Rev.? «, hakte ich nach.
Cohen zuckte die Schultern. »Reversham, Reva … ich habe keine Ahnung, wie dieser Crowley mit Vornahmen heißt.«
»Reverend?«, schlug ich vor.
Cohens Blick machte deutlich, dass er diese Möglichkeit auch schon erwogen hatte. Aber er hatte die verfallene Kirche schließlich ebenso gesehen wie ich.
»Ich finde schon heraus, was hier läuft«, versprach er düster. »Irgendwas stimmt hier nicht und ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich herausbekomme, was es ist. Und ich komme auch Ihrem Freund Lovecraft und seiner Bande auf die Schliche.«
»Roberts Freund, meinen Sie«, verbesserte ich ihn betont.
Cohens Augen blitzten. Er schwieg.
»Aber Roberts oder mein Freund, Inspektor«, fuhr ich fort. »Ich habe über das nachgedacht, was Sie mir erzählt haben: über den Angriff auf das Gefängnis und alles andere. Ich kann mir immer weniger vorstellen, dass Howard wirklich für den Überfall verantwortlich ist. Vielleicht galt der Angriff in
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