Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
Ruck, dann klang die Stimme ein wenig entfernter und entschlossener. »Ich hole den Doktor. Du bleibst hier und passt gut auf ihn auf. Falls er aufwacht, darf er sich auf keinen Fall bewegen, hörst du?«
»Er wacht nicht auf«, sagte die männliche Stimme, aber ich konnte hören, wie sich trotzdem Schritte meinem Bett näherten und Augenblicke später Holz knarrte. Offensichtlich stand auf der anderen Seite meines Bettes ein Stuhl, auf den sich jemand gesetzt hatte. Die Verlockung, die Augen zu öffnen, wurde plötzlich groß, aber ich widerstand ihr.
Mary verließ das Zimmer. Sie ließ die Tür hinter sich offen, sodass ich hören konnte, wie sich ihre Schritte draußen auf einer Treppe rasch entfernten, dann kehrte für endlose Augenblicke wieder Ruhe ein. Schließlich ein Räuspern.
»Sie hat Recht«, sagte eine Stimme links neben mir. »Du bist wach.«
Ich presste die Lider nur noch fester zusammen, bis es schließlich wehtat, aber dann sah ich ein, dass es wohl keinen Sinn mehr hatte sich weiter zu verstellen und öffnete ganz vorsichtig die Augen. Wohlweislich viel behutsamer als das erste Mal.
Trotzdem stöhnte ich wieder vor Schmerz, als ich in das Licht blickte. Sofort schossen mir die Tränen in die Augen und der Mann neben mir musste wohl begriffen haben, welche Pein mir das Licht bereitete, denn ich hörte, wie er aufstand und rasch zum Fenster ging. Ein schweres Rascheln und das peinigende Licht wurde zu einem matten Schimmer, der mir in diesem Moment noch immer unerträglich hell erschien, aber kein Vergleich zu der Agonie war, die ich zuvor erlebt hatte.
»Danke«, murmelte ich. Gleich darauf war ich sehr erstaunt. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich sprechen konnte.
Die Gestalt kam wieder zum Bett zurück, setzte sich aber diesmal nicht, sondern blieb dort stehen, wo Mary zuvor gewesen war. Ich drehte den Kopf und versuchte sie zu erkennen, vermochte aber nur einen Schatten im grauen Zwielicht wahrzunehmen. Immerhin sah ich, dass der Mann sehr groß war. Ein wahrer Riese, sicherlich sogar noch ein gutes Stück größer als Rowlf, dabei aber längst nicht so muskulös. Zwei weitere Informationen, die ich pedantisch einordnete, um mich später mit ihnen zu befassen: nämlich die, dass es Menschen von unterschiedlicher Größe gab und die, dass ich einen bestimmten Menschen namens Rowlf offensichtlich sehr gut kannte. Tatsächlich löste der Klang dieses Namens etwas Vertrautes und Vertrauensvolles in mir aus, nur wusste ich noch nicht genau, was.
Ich wartete darauf, dass sich meine Augen an das Licht gewöhnten, dann versuchte ich ein zweites Mal das Gesicht des Riesen neben meinem Bett zu erkennen. Darin war nichts Vertrautes. Eigentlich auch nicht sehr viel Vertrauensvolles. Er war ein wirklicher Riese, aber anders als Rowlf wirkte er grobschlächtig und brutal. Sein Gesicht war kantig und die Haare auf eine Art geschnitten, als hätte sein Barbier eine Sense benutzt. Außerdem hatte er Stöpsel im Kopf.
Eine ganze Weile stand er einfach da und sah mich an; und ich lag da und sah ihn an und dann sah ich zum ersten Mal in meinem neuen Leben ein Lächeln auf dem Gesicht eines Menschen. Vielleicht rührte es mich gerade deshalb so sehr an, weil es ein so grobschlächtiges, einfaches Gesicht war, ein Gesicht, das irgendwie gar nicht gewachsen, sondern … gemacht schien, von der Hand eines Menschen mit viel Sachverstand, aber wenig Kunstfertigkeit oder wenig Liebe. Jetzt entdeckte ich auch dünne, rote Linien, die kreuz und quer über dieses Antlitz liefen und es ein wenig wie ein Puzzle aussehen ließen.
Ich suchte in meinem Gedächtnis vergeblich nach irgendwelchen Worten, die ich an ihn richten konnte, als draußen auf dem Flur wieder Schritte laut wurden. Nicht mehr nur die Marys, sondern auch die eines zweiten Menschen. Sie bewegten sich sehr schnell. Sie rannten. Augenblicke später stürmte ein schlanker, silberhaariger Mann in einem dunklen Straßenanzug ins Zimmer. Mit zwei gewaltigen Schritten war er neben meinem Bett, blickte mir ins Gesicht – und ein Ausdruck absoluter Fassungslosigkeit erschien auf seinen Zügen. Erschrecken, Erleichterung, etwas wie Freude und zugleich eine Spur von Angst, die ich in diesem Moment natürlich noch nicht verstehen konnte. Ich sah, dass es sich trotz seines silberweißen Haares noch um einen relativ jungen Mann handelte, der kaum die Vierzig überschritten haben konnte. Seine Hände waren schlank und gepflegt und in den Sturm einander
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