Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
am Arm ergriff und noch ein Stück weiter von Joshua und den anderen Kindern wegzog, begann ich den Sinn all dessen wirklich zu begreifen.
Wir waren nicht mehr allein. Etliche Männer und Frauen waren aus ihren Häusern gekommen und die meisten davon bewegten sich jetzt schnell auf uns zu. Auf den Gesichtern nicht weniger erkannte ich einen Ausdruck von unverhohlener Wut.
»Sind Sie verrückt geworden?«, fragte Cohen noch einmal. Er schrie jetzt nicht mehr, sondern flüsterte fast. »Was zum Teufel ist los mit Ihnen?«
Ich hätte eine Menge gegeben, hätte ich die Antwort auf diese Frage gewusst. Es war normalerweise gar nicht meine Art, mich so leicht aus der Reserve locken zu lassen; schon gar nicht von einem Kind. Tatsächlich kam es sogar höchst selten, wenn nicht nie vor, dass ich die Beherrschung verlor; geschweige denn, auf eine so simple Provokation hereinfiel. Was war nur los mit mir?
»Was haben Sie getan?«, fragte eine herrische Stimme hinter mir. Ich drehte mich herum und blickte in das Gesicht eines grauhaarigen, stämmigen Mannes von vielleicht fünfzig Jahren. Seine Züge waren so verwittert und müde wie die aller Bewohner von Brandersgate, aber in seinen Augen loderte blanke Wut. »Wieso haben Sie den Jungen geschlagen?«
»Das habe ich nicht«, antwortete ich automatisch und spürte zugleich selbst, wie lahm diese Erwiderung klang.
Der andere schien sie auch gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er bedachte mich mit einem weiteren, zornigen Blick, dann trat er an mir vorbei und ging neben Joshua in die Hocke.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.
Joshua nahm ganz langsam die Hände herunter. Der Blick, den er ins Gesicht des Grauhaarigen warf, war bühnenreif. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich meine rechte Hand darauf verwettet, dass die Angst und der Schrecken darin echt waren.
Mehr und mehr Menschen tauchten rings um uns auf. Mütter eilten zu ihren Kindern und zogen sie hastig von uns fort, andere gingen zu Pasons und seinen Begleiter hinüber, aber eine große Anzahl stand auch einfach nur da und blickte Cohen und mich voller Feindseligkeit an. Mir wurde plötzlich klar, dass Joshua mir weit mehr als einen bösen Streich gespielt hatte. Und wie sollten diese Menschen auch anders reagieren? Cohen und ich waren für sie Fremde, die hierher kamen und sonderbare Fragen stellten, und was sie gesehen hatten, das war, wie ich scheinbar grundlos eines ihrer Kinder niederschlug.
Vielleicht hätte die Situation böse geendet, wäre nicht in diesem Moment am Ende der Straße eine weitere Gestalt erschienen. Es war Hennessey. Ich wusste es im gleichen Moment, in dem ich ihn erblickte, obwohl ich ihn noch nie zuvor im Leben gesehen hatte. Der Mann war überraschend jung – nach Alyssas Beschreibung hatte ich einen älteren Mann erwartet, eine gesetzte, grauhaarige Erscheinung, die mit missionarischem Eifer ihrem Werk nachging, aber Hennessey war keinen Tag älter als dreißig und er sah nach allem anderen als dem verschrobenen Sonderling aus, den ich erwartete. Er war sehr groß, sehr breitschultrig und hatte eine durch und durch sportliche Statur; und er war in einen – wie ich sofort erkannte – zwar maßgeschneiderten, trotzdem aber eher legeren Sommeranzug gekleidet. Und er strahlte eine Autorität aus, die man fast anfassen konnte.
Mit schnellen Schritten kam er herbei. Die Menge teilte sich vor ihm. Hennessey maß Cohen und mich nur mit einem fast flüchtigen Blick, dann machte er im rechten Winkel kehrt und trat auf Joshua und die anderen zu. »Geht es dir gut?«, fragte er. Kein Wort zu dem, was passiert war. Keine Frage nach uns, nach dem Grund für diese Aufregung.
Joshua antwortete nicht, sondern nickte nur schüchtern, nahm vollends die Arme herunter und hob die rechte Hand dann gleich wieder, wohl um sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Hennessey hob ganz sacht die linke Augenbraue. Joshua erstarrte mitten in der Bewegung, griff dann in die Rocktasche und zog ein blütenweißes, pedantisch zusammengefaltetes Taschentuch heraus, mit dem er sich säuberte.
Hennessey maß ihn noch eine Sekunde lang mit einem Blick, der mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Dann drehte er sich auf der Stelle herum, kam mit zwei schnellen Schritten auf uns zu und sah einen Moment lang Cohen, dann, und für einen sehr viel längeren Moment, mich an.
»Sie müssen die beiden Herren aus London sein, von denen mir Joshua berichtete«, sagte er.
Cohen nickte.
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