Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
Chance zum Eingreifen mehr gehabt hatte.
Rowlf schauderte. Auch er war gewiss kein Weichling, aber er fror trotz der viel dickeren Kleidung, die er sich übergeworfen hatte, wie der berühmte Schneider. Für Sill mussten die Temperaturen doppelt unangenehm sein, stammte sie doch aus einem Teil der Welt, in dem die meisten Menschen noch nicht einmal wussten, dass es so etwas wie Schnee gab. Aber sie war auch kein normaler Mensch. Vielleicht war sie gar kein Mensch, sondern – Rowlf verscheuchte den Gedanken. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er hatte genügend andere Dinge im Kopf – und die allerwenigsten davon waren angenehm. Er hatte Sills Frage zwar mit einem Nicken beantwortet, aber völlig sicher war er nicht. Sehr viel lieber hätte er ein paar Tage mehr Zeit gehabt, sich vorzubereiten und alles genau zu planen, vor allem jetzt, wo er praktisch auf sich gestellt war und weder auf Howards noch auf Roberts Hilfe zählen durfte. Aber das war nicht möglich. Die Beerdigung sollte bereits am nächsten Vormittag stattfinden und er hatte keine Lust, sich durch zwei Yards festgefrorenen Boden zu graben. Nicht, wenn es auch einfacher ging.
Es war ihm endlich gelungen, das Schloss des schmiedeeisernen Tores zu öffnen. Vermutlich hätte er es schneller gekonnt, wenn er wirklich gewollt hätte – das altersschwache Etwas, das ohnehin nur noch aus von schwarzer Farbe zusammengehaltenem Rost zu bestehen schien, hätte seinen Kräften sicherlich nicht lange standgehalten. Aber sie mussten vorsichtig sein. In der Stille der Nacht wäre der Lärm, den ein gewaltsames Öffnen des Tores verursacht hätte, möglicherweise meilenweit – auf jeden Fall aber zu weit – zu hören gewesen. Und das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war Aufsehen.
Die Scharniere quietschen leise, als er eine der beiden Torhälften aufdrückte. »Gemma«, murmelte er und trat mit einem beherzten Schritt durch das Tor.
Er hatte noch nie erlebt, dass sich Sill el Mot vor etwas fürchtete. Er hatte sogar bezweifelt, dass sie zu diesem Gefühl überhaupt in der Lage war – doch jetzt waren die Anzeichen ihrer Angst unverkennbar.
Allerdings konnte er sie gut verstehen; ihm selbst erging es kaum anders.
In Gedanken verfluchte er Howards Auftrag, an den Dr. Gray ihn am Nachmittag noch einmal erinnert hatte, vor allem, weil er nicht begriff, was sich H.P. davon versprach. Robert war tot und auch wenn es ihm ebenfalls schwer fiel, sich damit abzufinden – es war so. Grausam, ungerecht und furchtbar, aber zugleich auch eine unumstößliche Tatsache. Rowlf war der Meinung, dass man Tote in Frieden ruhen lassen sollte; erst recht, wenn es sich um tote Freunde handelte.
Andererseits war Howard niemand, der etwas ohne besonderen Grund tat oder von anderen verlangte. Wenn er wollte, dass Roberts Leichnam zu Viktor gebracht wurde, dann würde er auch dafür seine Gründe haben, und Rowlf war bereit, sich danach zu richten; auch ohne zu fragen.
Das bedeutete jedoch nicht, dass ihm dieser Auftrag gefiel, ganz im Gegenteil.
Rowlf war mit Sicherheit kein furchtsamer Mensch und er war auch alles andere als abergläubisch; auch und vielleicht gerade weil er in seinem Leben schon Dinge gesehen und erlebt hatte, die andere vermutlich um den Verstand gebracht hätten. Ganz gewiss gehörte er nicht zu den Menschen, die pfiffen, wenn sie in einen Keller gingen, oder sich auf einem nächtlichen Friedhof fürchteten.
Normalerweise.
Heute war das anders. Rowlf hatte Angst, mehr sogar, als er sich selbst gegenüber eingestehen wollte. Viel mehr. Seine Hände waren feucht und sein Herz schlug schnell und hart. Was war nur mit ihm los? Es hatte irgendetwas mit diesem Ort zu tun, da war er sicher. Im gleichen Moment, in dem sie das Tor durchschritten hatten, war … irgendetwas geschehen. Als hätten sie eine andere Welt betreten, die zwar genauso aussah wie die vertraute, es aber nicht war. Ganz und gar nicht.
Vielleicht lag es an dem verdammten Nebel.
Nebel in London war sicher nichts Ungewöhnliches, wohl aber um diese Jahreszeit und bei dieser Kälte. Und vor allem dann, wenn er sich nur auf diesen kleinen Friedhof am Rande der Stadt beschränkte. Wie ein Gespinst aus grauer Watte hing der Nebel zwischen den Bäumen, die den Weg zu der kleinen Kapelle säumten, tränkte die Luft mit Feuchtigkeit und verbargen nicht nur alles, was sich weiter als ein paar Schritte von ihnen entfernt befand, sondern schien auch jeden Laut zu verschlucken. Selbst das
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