Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
schien sich mit erstaunlicher Schnelligkeit erholt zu haben oder Viktor hatte ein weiteres medizinisches Wunder an mir vollbracht. Jedenfalls setzte ich mich ohne die geringste Mühe auf, schlug die Bettdecke zur Seite und stand nach einer weiteren Sekunde ganz auf. Nun überkam mich doch ein leichtes Schwindelgefühl, aber ich wurde damit fertig. Die Unruhe und Nervosität in meinem Inneren nahmen weiter zu. Gefahr!, schrie eine unhörbare Stimme hinter meinen Schläfen.
Zögernd wandte ich mich um, ging zum Fenster und blinzelte durch einen Spalt der noch immer zugezogenen Vorhänge nach draußen. Es war Mittag. Die Straße lag in hellem Sonnenschein unter mir, der meinen Augen immer noch wehtat, jetzt aber zu ertragen war. Vor dem Haus flanierten Fußgänger, fuhren Lastkarren und Prachtkutschen vorbei, spielten Kinder. Ein völlig normaler Anblick. Und doch … irgendetwas stimmte hier nicht.
Plötzlich wurde das Gefühl einer Gefahr so intensiv, dass ich es fast nicht mehr aushielt. Ich trat vom Fenster zurück, sah mich suchend um und entdeckte einen gestreiften Hausmantel aus schimmernder Seide, der sorgsam zusammengelegt über einem Stuhl neben meinem Bett hing. So rasch ich konnte, schlüpfte ich hinein, ging zur Tür und öffnete sie. Nur einen Spalt breit.
Einige Sekunden lang lauschte ich mit klopfendem Herzen nach draußen. Nichts. Ich hörte jetzt zwar Stimmen und gedämpfte Geräusche, aber es waren die ganz normalen Laute eines so großen Hauses. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber der Klang der Stimmen verriet keinerlei Aufregung oder gar Schrecken. Vielleicht, versuchte ich mich zu beruhigen, war es doch nur ein Albtraum gewesen. Wenn man sich in einem körperlichen – und vor allem seelischen – Zustand wie ich befand, mochte man auf harmlose Dinge über die Maßen reagieren.
Doch statt mich von diesem an sich ganz logischen Gedanken beruhigen zu lassen, öffnete ich die Tür im Gegenteil noch weiter und trat auf den Flur hinaus.
Ein breiter Korridor, von dem ein gutes halbes Dutzend Türen abzweigte, nahm mich auf. Zur Linken endete er nach zwölf oder fünfzehn Yards vor einer Wand, in der ein mit buntem Bleiglas versehenes Fenster eingelassen war, zur Rechten nach ungefähr der gleichen Strecke an einer gewaltigen Marmortreppe, die sich in sanftem Bogen in die Tiefe schwang. Ich war nicht einmal sicher, ob meine Kräfte ausreichten, diese Treppe zu bewältigen. Trotzdem bewegte ich mich darauf zu, blieb auf der obersten Stufe noch einen Moment stehen und begann dann hinabzusteigen, wobei ich mich mit beiden Händen an dem geschnitzten Geländer festhalten musste. Meine Knie zitterten und jeder Schritt fiel mir schwerer. Immerhin war ich vor mehr als fünf Jahren das letzte Mal aus eigener Kraft gelaufen, wenn Viktor mir die Wahrheit erzählt hatte.
Ich war auf halber Höhe der Treppe angelangt, als die Halle in Sicht geriet. Sie war sehr groß und fast pompös eingerichtet, mit holzgetäfelten Wänden, an denen teure Vorhänge und kostbare Ölgemälde hingen, und einem schwarz-weiß gemusterten Marmorboden. Der Anblick bestätigte meine Vermutung, mich in einem hochherrschaftlichen Haus zu befinden. Zugleich kam mir meine Umgebung auf sonderbare Weise vertraut vor. Ich kannte vielleicht nicht dieses Haus, wohl aber Häuser wie dieses. Offensichtlich war ich in meinem früheren Leben alles andere als arm gewesen.
Meine Beobachtungen hielten mich nicht davon ab, Stufe um Stufe weiter nach unten zu gehen, obwohl mir jeder Schritt schwerer fiel als der vorherige. Aber das Gefühl einer Gefahr war mittlerweile so intensiv geworden, dass ich es beinahe wie einen körperlichen Schmerz spürte. Irgendetwas Schreckliches, unvorstellbar Gefährliches näherte sich dem Haus.
Ich hatte fünf oder sechs weitere Stufen geschafft, als ich unter mir das Geräusch einer Tür und dann Viktors vertraute Stimme hörte. Augenblicke später geriet der Hausherr in mein Sichtfeld, zusammen mit Boris, der mit hängenden Schultern neben ihm ging und alle Mühe zu haben schien, die Schritte seiner überlangen Beine denen seines normal gewachsenen Herrn anzupassen.
Viktor entdeckte mich fast im gleichen Moment, wie ich ihn. Er verstummte mitten im Wort, riss erschrocken die Augen auf und starrte mich eine Sekunde lang ungläubig an. Dann verdüsterte sich sein Blick.
»Robert!«, rief er, in einem Ton, der sehr viel mehr zornig als besorgt klang. »Was zum Teufel tun Sie hier? Wollen Sie sich
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