Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
Vorsichtshalber blieb ich erst einmal völlig reglos liegen und spielte weiter den Schlafenden, obwohl der üble Geschmack in meinem Mund immer schlimmer wurde.
»Keine Ahnung«, antwortete die zweite Stimme. Beide klangen rau und irgendwie unangenehm, aber das mochte auch an der unheimlichen Akustik in den Kanalisationsrohren liegen. »Interessiert mich auch nicht. Der Boss hat gesagt, wir sollen die Augen offen halten, und das haben wir getan, oder?«
»Ja – aber er hat auch gesagt, dass es sich für uns auszahlt«, erwiderte die erste Stimme. Sie klang irgendwie nörgelig, wie die eines Kindes, das zum dritten Mal fragt, wann es denn endlich seine Weihnachtsgeschenke auspacken darf. »Der Typ hat rein gar nichts bei sich. Nicht einen Penny. Dabei sieht er aus wie der stinkreichste Dandy. Aber keinen roten Heller in der Tasche!« Ein Seufzen. Dann: »Sag mal – hat der Kerl gerade wirklich mit einer Ratte geredet, oder sehe ich schon Gespenster?«
Der andere antwortete mit einem Lachen und ich glaubte am Klang der Stimmen zu erkennen, dass sich die Männer jetzt nicht mehr unmittelbar in meiner Nähe befanden, und so wagte ich es ein zweites Mal, vorsichtig die Lider zu öffnen. Es tat genauso weh wie der erste Versuch, aber immerhin bekam ich das rechte Augenlid einen winzigen Spalt auf. Ich sah grauen, schmutzverkrusteten Stein und die ölig schimmernde Oberfläche einer Pfütze, in der mein Gesicht lag. Der Anblick ließ die Übelkeit in meinem Magen zu einem Orkan anwachsen, aber immerhin wusste ich jetzt, woher der widerwärtige Geschmack auf meiner Zunge kam. Das schmutzige Wasser war in meinen Mund gedrungen, als ich bewusstlos gewesen war.
Wenigstens redete ich mir ein, dass es Wasser war.
»Und was machen wir jetzt mit dem Kerl?«, fuhr die nörgelnde Stimme fort.
Ich wagte es, auch das andere Augenlid zu heben. Es tat genauso weh wie das linke, aber jetzt konnte ich einen zerschrammten Schuh erkennen, der nur wenige Inches vor meinem Gesicht stand. Die Sohle begann sich an einer Seite zu lösen und es war ein sehr großer Schuh.
»Was der Chef gesagt hat – wir bringen ihn zum Treffpunkt.«
»Und alles für nothing?«, fuhr der Nörgler fort. »Und wenn er es nicht ist, haben wir noch das Problem, uns den Kerl wieder vom Hals zu schaffen.«
»Du kannst ihn ja hierlassen. Bin nur gespannt, wie du dem Boss erklärst, warum.«
»Was er nicht weiß, macht ihn nicht – he, der Kerl ist wach!«
Ehe ich auch nur ganz begriff, dass sich die letzten fünf Worte auf mich bezogen, wurde ich auch schon von kräftigen Händen gepackt und in die Höhe gerissen. Ganz instinktiv hob ich die Hände und der Bursche musste diese Bewegung wohl falsch deuten, denn das nächste, woran ich mich klar erinnerte, war, schon wieder auf dem Boden zu hocken und mir die brennende Wange zu halten. Für einen Moment verschwamm alles vor meinem Blick. Ich sah zwei schattenhafte Gestalten vor mir aufragen, aber ihre Gesichter waren nicht mehr als konturlose Flecken in der Dunkelheit.
»Wie lange bist du schon wach und belauschst uns, Kerl?«
Die Stimme klang plötzlich gar nicht mehr nörgelnd, sondern scharf und so drohend, dass ich erschrocken aufsah und für einen Moment sogar meine Benommenheit vergaß.
Die beiden Burschen standen nebeneinander vor mir, der, der mich hochgerissen und geohrfeigt hatte, mit drohend geballten Fäusten, der andere einen halben Schritt dahinter. In seiner Hand baumelte ein alter Socken, der vielfach und mit verschieden farbigem Garn geflickt und mit Sand oder Kieselsteinen gefüllt war. Ich begann allmählich zu begreifen, woher das Dröhnen in meinem Kopf stammte. Beide waren sehr groß und obwohl sie sie nicht einmal ähnelten, spürte ich doch eine gewisse Verwandtschaft zwischen ihnen. Sie gehörten dem gleichen Typ von Männern an: groß, brutal, gemein – ganz die Burschen, von denen man Sonntags mit einem wohligen Schauer in den Gazetten liest, dass sie wieder einen arglosen Geschäftsmann überfallen oder leichtsinnige Touristen in einen Hinterhalt gelockt hatten.
Nur, dass heute nicht Sonntag war, ich nicht in dem gemütlichen Salon in meinem Haus am Ashton Place saß und in einer Zeitung blätterte und der Schauer, der mir über den Rücken rann, alles andere als wohlig war. Und außerdem – Ashton Place? Salon?
Ich starrte die beiden Kerle mit offenem Mund an und im gleichen Augenblick brachen immer mehr und mehr Erinnerungen über mich herein. Noch lange nicht alle. In
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