Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
das Maul aufmachen, bevor ich wirklich die Geduld verliere!«
Und in diesem Moment begriff ich, dass er mich wahrscheinlich umbringen würde.
Ich konnte ihm nicht antworten. Ich hatte einen Teil meiner Erinnerungen zurückgewonnen, aber mein Name gehörte nicht dazu. Ich wusste meinen Vornamen und selbst den nur, weil Viktor ihn mir verraten hatte, nicht, weil ich mich daran erinnerte. Aber der Bursche würde mir nicht glauben – und wie konnte er auch? Er würde mich umbringen.
Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte ich vielleicht gelacht. Das Schicksal hatte sich einen besonders boshaften Scherz mit mir erlaubt. Ich war den Ratten entkommen, wie durch ein Wunder, nur um zwei anderen, zweibeinigen Ratten in die Hände zu fallen, die – ich vielleicht auf die gleiche Weise besiegen konnte.
Der Gedanke erschien mir im ersten Moment selbst absurd. Aber die ganze Situation war absurd und ich hatte nichts zu verlieren.
Ich richtete mich auf, straffte die Schultern, so weit es der Würgegriff Shortys zuließ, und versuchte meine Angst und die hämmernden Schmerzen in meinem Kopf ebenso zu ignorieren wie die melonengroße Faust, die noch immer drohend vor meinem Gesicht hing. Fest sah ich ihm in die Augen.
»Also?«, fragte Shorty. »Wer bist du?«
Ich starrte ihn an. Meine Augen fixierten die seinen und ich konzentrierte mich wie nie zuvor im Leben. »Ich bin dein schlimmster Albtraum«, sagte ich ruhig.
»Was?«, machte Shorty dümmlich.
»Lass mich los«, fuhr ich fort; nicht einmal sehr laut, aber mit einer Stimme, die so schneidend und scharf war, dass es einfach keinen Widerspruch gab. Und zugleich spürte ich, wie … irgendetwas in mir wieder erwachte. Nicht einmal die unheimliche Macht, die ich in Viktors Haus entfesselt hatte, sondern … etwas anderes. Der gleiche, unbezwingbare Wille, der die Ratten vertrieben hatte. Shorty hatte ihm nichts entgegenzusetzen, das spürte ich genau.
»Lass mich los«, sagte ich noch einmal. »Ich befehle es dir!«
Shorty riss die Augen auf, blinzelte – und schlug mir so wuchtig die Faust auf die Nase, dass ich vor Schmerz aufschrie und ein Schwall von Blut über mein Gesicht schoss.
Jack klatschte johlend Beifall und hüpfte vor lauter Begeisterung auf dem Bein herum, dass ich ihm angeblich gebrochen hatte. »Mach ihn fertig, Shorty!«, schrie er. »Schlag ihm den Schädel ein!«
Shortys Gesicht nahm einen so grimmigen Ausdruck an, dass ich für einen Moment felsenfest davon überzeugt war, er würde der Aufforderung seines Kumpans Folge leisten. Aber dann begnügte er sich doch damit, mich noch einmal so derb zu schütteln, dass meine Zähne schmerzhaft aufeinander klapperten. Trotzdem versuchte ich noch einmal seinen Blick zu fixieren, aber es gelang mir nicht. Ich sah alles doppelt und meine Nase blutete noch immer heftig, was meine Konzentration doch nachhaltig störte.
Irgendetwas musste Shorty jedoch trotzdem gespürt haben, denn er hielt für einen Moment darin inne, mich wie einen Cocktail-Shaker hin und her zu schütteln, stellte mich grob auf die Beine und hielt mich zugleich fest – wofür ich ihm im Moment aber eher dankbar war, denn anderenfalls wäre ich wahrscheinlich auf der Stelle zusammengebrochen.
»Wir nehmen ihn mit«, entschied er. »Soll sich doch der Boss Gedanken darüber machen, was mit ihm passiert.«
Trotz des Windes war Nebel aufgekommen, der von den Böen durcheinander gewirbelt, nicht jedoch auseinander gerissen oder verjagt wurde. Es war kein normaler Nebel.
Howard hätte den Schrei nicht einmal hören müssen, um das zu begreifen.
Genau wie alle anderen war er herumgefahren; vielleicht den Bruchteil einer Sekunde später, denn sein allererster Gedanke war eine gewisse, fast akademische Neugier, ob er nun wirklich noch am Leben war oder der Schrei und die plötzliche Aufregung vielleicht schon zu dem gehörten, was auf der anderen Seite wartete. Aber diese Verwirrung hielt nur genau so lange an, wie es dauerte, die Augen zu öffnen und die grauen Schwaden anzublicken.
Es war kein Nebel. Er sah nicht wirklich aus wie Nebel und er benahm sich nicht wirklich wie Nebel. Die grauen, nassen Schwaden schlugen wie Wogen eines in einer langsameren Zeit gefangenen schmutzigen Ozeans über die dreifach mannshohe Außenmauer des Gefängnishofes und krochen träge daran herab; zähflüssig wie Öl oder Sirup, und wenn man genau hinsah, dann konnte man tatsächlich dünne, rauchige Fäden erkennen, die sie hinter sich
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