Hexer-Edition 21: Der Sohn des Hexers I
hatte: Ich hatte ein zweites Leben geschenkt bekommen, und auch wenn es nicht einmal nach Tagen, sondern nur nach Stunden gezählt hatte, so war es doch weit mehr gewesen, als ich erwarten konnte; und vielleicht mehr, als gut war. Es gab Dinge, an die die Menschen niemals rühren sollten, und der Tod – nicht der Moment des Sterbens, aber das, was danach kommt – gehören dazu.
»Hier?«, fragte ich.
Crowley sah mich durch die schmalen Sehschlitze seiner Maske hindurch nur schweigend an, aber Shadow nickte. »Ja«, antwortete sie. »Es ist … ein besonderer Ort. Ich würde es dir gerne genauer erklären, aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«
»Das macht nichts«, antwortete ich. »Es ist ein guter Ort um zu sterben.« Ich meinte das völlig ernst. Vielleicht gibt es keine guten Orte um zu sterben, aber Shadow und Crowley hatten sich zumindest bemüht, für meine letzten Augenblicke eine möglichst angenehme Umgebung zu schaffen.
Wir befanden uns in einer großen, halbrunden Halle, deren Wände aus dem gleichen weißen Marmor bestanden wie der Gang, der uns hierher gebracht hatte, und genau wie dieser keine Fenster hatten – und wie auch? Schließlich lag die gesamte Anlage tief unter der Erde und nicht einmal sehr weit vom Haus meines Vaters entfernt. Für einen Moment verspürte ich eine leichte Irritation bei der Vorstellung, dass sich dieses phantastische Gebilde die ganze Zeit über direkt unter unseren Füßen befunden haben sollte, ohne dass ich, mein Vater, Howard oder irgendein anderer etwas davon geahnt haben sollten, aber auch dieser Gedanke entglitt mir wieder, noch ehe ich ihn ganz zu Ende verfolgen konnte, und ich setzte meine Betrachtung des Altarraumes fort. Abgesehen von dem roten Licht der Fackeln und der unheimlichen Kleidung Crowleys und seiner Männer, die einfach nicht in diese Umgebung passen wollten, hätte der Tempel auch aus dem biblischen Garten Eden stammen können: Überall an den Wänden waren Schalen mit exotischen Blumen aufgehängt und in der Luft hing ein Wohlgeruch, den ich nicht zu definieren vermochte, der aber fast berauschend war. In der Mitte des Raumes befand sich ein gemauertes Becken mit kristallklarem Wasser, auf dessen Oberfläche gelbe Seerosen schwammen. Für einen kurzen Moment glaubte ich eine Bewegung unter der Wasseroberfläche wahrzunehmen, aber es war nur ein Schatten, der davonhuschte, als ich genauer hinsah.
Shadow deutete auf einen gewaltigen Block aus schneeweißem Marmor, der sich auf der anderen Seite des Beckens erhob, und ich setzte mich gehorsam in Bewegung, obgleich mir auch dieser Anblick irgendwie … nicht richtig erschien. Ich hatte akzeptiert, dass ich dieses geliehene Leben nicht weiterleben durfte, und trotzdem ließ die Vorstellung, auf diesem Altar geopfert zu werden, etwas in mir erstarren.
»Es muss sein, Robert«, sagte Shadow. Offensichtlich hatte sie meine Gedanken gelesen – natürlich, das hatte sie schon immer getan. »Es mag dich erschrecken, doch für das, was ich tun muss, sind besondere Umstände vonnöten.« Sie atmete hörbar ein. »Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.« Die Furcht, die sie bei diesen Worten verspürte, war unüberhörbar.
»Zeit?«, fragte ich und blieb stehen. Ich sah sie eine Sekunde lang scharf an und fragte noch einmal: »Zeit? Wofür?«
Und vielleicht zum ersten Mal, seit ich diesem unglaublichen Wesen begegnet war, hatte sie nicht die Kraft, meinem Blick standzuhalten.
»Du verschweigst mir etwas«, sagte ich.
Shadow antwortete auch jetzt nicht, aber es war die Art ihres Schweigens, die mir sagte, dass ich Recht hatte mit meiner Vermutung. »Was ist es? Was ist geschehen, während ich … tot war?«
»Nichts«, antwortete Crowley an Shadows Stelle. Ich warf ihm einen zornigen Blick zu, aber er ignorierte ihn und fuhr im Gegenteil fort: »Aber danach. Nicht nur wir, sondern auch Ihre alten Feinde haben Ihr Erwachen registriert, Robert –«
»Das weiß ich«, unterbrach ich ihn, aber wieder fuhr Crowley unbeeindruckt fort:
»Und sie sind nicht nur auf Sie, sondern auch auf Ihre Freunde aufmerksam geworden.«
»Meine …« Ich verstummte entsetzt, als ich begriff, was Crowley meinte. »Howard?«, fragte ich. »Sie wollen sagen, dass sie … auch Howard und die anderen verfolgen?«
»Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät«, sagte Crowley. »Sie werden von ihren Opfern ablassen, sobald es Sie nicht mehr gibt, Mr. Craven, denn es wäre sinnlos, Howard und die anderen zu jagen, verfolgte es
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