Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
gut. Ohne entdeckt zu werden, erreichten sie das Gerüst, das an einer Seite des Zerstörers aufgebaut war. An der untersten Ebene gab es keine Leitern, aber das war kein Problem. Kelly ergriff eine der Gerüststangen über seinem Kopf und schwang sich auf eines der massiven Bretter hinauf. Norris folgte ihm und war Sekunden später neben ihm angelangt. Von hier aus war alles ein Kinderspiel. Sie brauchten nur einige Leitern zwischen den einzelnen Ebenen des Gerüstes hinaufzusteigen, um die Reling des Schiffes zu erreichen, und schwangen sich darüber an Bord.
Norris’ Unbehagen verstärkte sich, doch er schob es auf seine Nervosität. Er war immer nervös bei einem Bruch, selbst wenn es sich um eine noch so einfache Sache handelte. Dafür hatte er schon zu schlechte Erfahrungen durch plötzliche unliebsame Überraschungen gemacht. Einmal war er in eine Villa eingebrochen, deren Besitzer sich mit seiner Frau auf einem Wohltätigkeitsball vergnügte und seinem Personal für diesen Abend frei gegeben hatte. Es hätte sich niemand im Haus befinden dürfen und zumindest soweit es Menschen betraf, stimmte das auch. Wovon er allerdings nichts gewusst hatte, das war der Wachhund gewesen, der in der Villa zurückgeblieben war, ein riesiger Rottweiler mit einem Maul voller mörderischer Reißzähne. Das Tier hatte ohne einen verräterischen Laut gewartet, bis er ins Haus eingedrungen war, und hatte sich dann aus der Dunkelheit heraus urplötzlich auf ihn gestürzt. Nur mit knapper Not war es Norris gelungen, seine Kehle zu schützen; dafür hatte das verdammte Biest seinen Arm fast in Hackfleisch verwandelt, ehe es ihm gelungen war, seinen Revolver zu ziehen und es zu erschießen. Das lag mittlerweile rund acht Jahre zurück, doch seitdem traute er keinem noch so sicher erscheinenden Frieden mehr.
Hier jedoch gab es absolut keinen konkreten Grund zur Beunruhigung. Das Deck des Schiffes war menschenleer und auch von außerhalb konnten sie hier nicht mehr entdeckt werden. Er hatte vor ein paar Minuten schließlich selbst erst gesehen, dass in der Dunkelheit von unten keine Konturen oder Bewegungen mehr ausgemacht werden konnten, dass das Schiff mit allem, was sich darauf befand, wie eine Wand aus geronnener Schwärze erschien. Für einen kurzen Moment hatte Norris sogar das Gefühl, als wäre es hier an Bord der THUNDERCHILD tatsächlich dunkler, doch auch das war mit Sicherheit nur Einbildung.
»Hier lang«, raunte Kelly und deutete in Richtung einiger Decksaufbauten. Sie hasteten darauf zu und blieben vor einer massiv aussehenden Stahltür stehen, die ihnen den Weg ins Innere des Schiffes versperrte. Kelly zog ein Brecheisen unter seiner Jacke hervor und setzte die Spitze in dem schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen an. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen. Das Metall knirschte, hielt dem Druck jedoch stand.
»Jetzt hilf mir doch endlich«, zischte Kelly.
Norris trat neben ihn und stemmte sich ebenfalls gegen die Brechstange, aber obwohl er wesentlich stärker als Kelly war, gelang es ihnen selbst mit vereinten Kräften nicht, die Tür aufzustemmen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen gaben sie schließlich auf. Wütend trat Kelly gegen die Tür.
»Diese verdammten Navy-Kähne«, stieß er hervor. »Warum müssen die Idioten hier auch alles so stabil bauen? Auf einem anderen Schiff hätten wir diese Schwierigkeiten nicht.«
»Aber auch keine Waffenkammer und keine wertvolle Ausrüstung«, entgegnete Norris und konnte sich ein leichtes Grinsen dabei nicht verkneifen. »Ich denke, das wird ein Kinderspiel?«
Mit der Brechstange in der Hand stieg er eine eiserne Treppe zur Brücke hoch. Der Kommandostand des Schiffes war von großen Fenstern umgeben. Ungeachtet des immer noch fallenden Regens zog Norris seine Jacke aus und wickelte sie um die Stange, um den Lärm zu dämpfen, dann schlug er kraftvoll zu. Das Glas war speziell gehärtet und so dick, dass er mehrere Schläge brauchte, bis es schließlich zerbrach. Trotz der Jacke kam das Splittern Norris überlaut vor und er war überzeugt, dass es in der Stille der Nacht meilenweit zu hören sein musste.
»Zum Teufel, geht es nicht noch etwas lauter?«, knurrte Kelly, der neben ihn getreten war. »Willst du die halbe Stadt aufwecken?«
Mehrere Minuten lang blieben sie regungslos stehen, ohne dass jemand kam, um nach der Ursache des Lärms zu forschen. Erst dann löste sich ihre Anspannung und auch Norris begann zu glauben, dass offenbar tatsächlich niemand etwas
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