Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
Verdammt, begreifst du eigentlich gar nichts?«
»O doch, ich begreife sehr gut, dass du ein jämmerlicher Feigling bist, der sich bei jeder Kleinigkeit fast vor Angst in die Hosen macht. Siehst du hier irgendwas, wovor wir uns fürchten müssen? So leicht war es selten, an einen ganzen Haufen Kohle heranzukommen, aber du hast ja soviel Schiss, dass du es schaffst, noch alles zu versauen.«
Norris machte einen drohenden Schritt auf Kelly zu. Er ärgerte sich immer mehr, dass er sich hatte überreden lassen, hierher zu kommen. Kelly hatte gerade Grund, sauer zu sein. Der Kerl war ein Idiot, der sich jetzt auch noch aufspielte und die große Lippe riskierte. Nur zu gerne hätte Norris ihm die große Klappe gestopft, aber …
Er ließ die bereits halb zum Schlag erhobene Faust wieder sinken, als er begriff, was er im Begriff stand zu tun. Er war im Grunde seines Herzens ein friedliebender Mensch und er schlug sich nur, wenn es gar nicht anders ging. Trotzdem hätte er sich um ein Haar hinreißen lassen, auf Kelly loszugehen, nur weil dieser ihm Feigheit vorgeworfen hatte. Was war nur mit ihm los? Sicher, er war gereizt und er fühlte sich beklommen in dieser Umgebung, aber das war noch lange kein Grund, sich so gehen zu lassen.
»Was ist los?«, fragte Kelly herausfordernd. »Schlag mich doch, oder bist du auch dazu zu feige, weil du genau weißt, dass du dann von mir eine ordentliche Abreibung bekommst?«
Erneut schoss heiße Wut in Norris hoch, aber er kämpfte dagegen an.
»Hör auf damit«, presste er hervor. »Wir müssen … aufhören. Wir sind doch nicht hier, um uns zu schlagen!«
Langsam wich die Wut aus Kellys Blick. Er schüttelte den Kopf und strich sich mit einer Hand die Haare aus der Stirn. Erschrecken zeichnete sich in seinem Gesicht ab.
»Du hast Recht«, murmelte er. Es fiel ihm sichtlich schwer, die Worte auszusprechen. »Was ist nur mit uns los? Wir benehmen uns schon beide wie die kleinen Kinder.«
»Es ist dieses Schiff«, behauptete Norris. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
»Ach was.« Kelly lachte, doch es klang gekünstelt. »Das ist einfach nur ein Schiff. Wir sind wohl einfach beide mit den Nerven ein bisschen runter.«
Für den Moment gab sich Norris mit dieser Erklärung zufrieden, obwohl sie ihn ganz und gar nicht überzeugte. Sicher, mit seinen Nerven stand es nicht gerade zum Besten, aber das war nicht der einzige Grund für sein Verhalten. Die Umgebung wurde ihm mit jeder Minute unheimlicher, obwohl – oder vielleicht gerade weil – es keinen rational fassbaren Anlass dafür gab. Er spürte einfach unterschwellig, dass es irgendetwas Besonderes mit diesem Schiff auf sich hatte. Sie sollten nicht hier sein. Irgendetwas Böses lauerte in diesen stählernen Wänden und wartete nur auf eine günstige Gelegenheit zum Zuschlagen.
Aber obwohl dieses Gefühl so stark war, dass es fast an Gewissheit grenzte, behielt er seine Gedanken für sich. Er wollte nicht schon wieder einen neuen Streit mit Kelly provozieren und außerdem war er sich bewusst, wie verrückt das klingen musste, was ihm durch den Kopf ging, wenn er es aussprach. Er verstand es ja selbst nicht und – schlimmer noch – es erschien ihm selbst viel zu absurd, um ernsthaft daran zu glauben. Geschichten über Spuk und Geister waren für ihn bislang nicht mehr als Ammenmärchen gewesen, mit denen man allenfalls kleine Kinder erschrecken konnte. Jetzt kamen ihm erste Zweifel an dieser Überzeugung, aber solange es keine Beweise gab, dass hier wirklich etwas nicht mit rechten Dingen zuging, bemühte er sich, sie zu verdrängen.
Sie gingen weiter den Gang entlang, bis der Lichtschein der Lampe auf eine massive eiserne Wand an seinem Ende traf, in der es keine weitere Tür gab.
»Endstation«, kommentierte Kelly. »Versuchen wir es in der anderen Richtung.«
Sie wandten sich um und gingen in der gleichen Richtung zurück, aus der sie gekommen waren – bis sie nach knapp einem Dutzend Schritten auf einen Quergang stießen, der sich in beide Richtungen weiter fortsetzte, als das Licht der Lampe reichte.
»Verdammt«, presste Norris hervor. Seine Stimme klang bei weitem nicht so fest, wie er es sich gewünscht hatte. »Vorhin hat es hier keine Abzweigung gegeben.«
»Wir müssen sie irgendwie übersehen haben«, antwortete Kelly. Auch seine Stimme klang beklommen.
»Nein, es war keine da!«, behauptete Norris. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Angst, die erneut in ihm emporwallte, in Zaum zu halten. Sein erster
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