Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
stürzte ich zu Boden, rollte auf den Rücken und sah den Mann, der mich überwältigt hatte, groß wie einen Turm über mir aufragen. Ich war sicher, dass er die Geschichte jetzt mit einem wohlgezielten Fußtritt zu einem kurzen, wenn auch nicht unbedingt schmerzlosen Ende bringen würde, doch zu meiner Überraschung tat er nichts dergleichen. Stattdessen ließ er sich vor mir in die Hocke sinken, zog einen Strick aus der Jackentasche und griff beinahe sacht nach meinen Handgelenken. Ich versuchte benommen, mich zu wehren, aber er ignorierte meine Gegenwehr einfach, fesselte mich an Händen und Füßen und schien dann schlagartig jedes Interesse an mir zu verlieren. So abrupt und scheinbar vollkommen unmotiviert, wie der Überfall begonnen hatte, endete er auch wieder. Howard, Cohen und auch Montgomery wurden auf die gleiche Weise wie ich gefesselt. Als sie damit fertig waren, wandten sich die Männer wieder ihrer Arbeit zu, als wäre überhaupt nichts geschehen.
Howard, Cohen und ich mussten hilflos mit ansehen, wie die Männer die gewaltige Felsplatte mit geschickten Bewegungen aus der Wand lösten und abtransportierten – zehn Mal müheloser und ungefähr zwanzig Mal schneller, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Nicht einmal zehn Minuten, nachdem sie uns überwältigt hatten, verschwanden die Männer mit ihrer Beute.
Und Montgomery.
»Nun komm schon«, drängte Kelly flüsternd. »Was ist bloß los mit dir? Angst?«
Phillip Norris funkelte ihn einen Moment lang zornig an, schluckte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, dann aber hinunter und zuckte nur mit den Achseln. Im Gegensatz zu dem drahtigen, eher kleinen Kelly war er groß und kräftig. Auf den ersten Blick vermittelte er einen gutmütigen, etwas behäbigen Eindruck, doch das war nur äußerer Schein. Wenn es darauf ankam, konnte er sich trotz seiner Statur ebenso schnell und geschmeidig wie Kelly bewegen. Schon so mancher, der ihn nur nach dem ersten Eindruck beurteilt und für einen tumben Deppen gehalten hatte, hatte sich anschließend eines Besseren belehren lassen müssen.
»Dann komm endlich!«, zischte Kelly, als er keine Antwort bekam. »Es dauert nicht mehr lange, bis der Nachtwächter zurückkommt.«
Norris rührte sich auch weiterhin nicht, sondern blieb hinter den Kistenstapel geduckt hocken. Er war von Kellys Plan von Anfang an nicht sonderlich begeistert gewesen und auf dem Weg hierher war auch der Rest seiner ohnehin nicht besonders großen Zuversicht zum größten Teil geschwunden. Mittlerweile bedauerte er, dass er überhaupt auf Kelly gehört und sich zu diesem verrückten Unternehmen hatte überreden lassen. Es regnete leicht und der Wind trieb von der Themse her Nebelschwaden heran, die ein wenig wie herumschwebende Gespenster aussahen.
Aber das Wetter war es nicht, das Norris zu schaffen machte. Er war es gewohnt, auch bei Wind und Regen draußen zu sein.
»Du weißt, dass Rowlf solche Extratouren nicht leiden kann«, murmelte er. »Wir hätten vorher mit ihm darüber sprechen sollen. Vielleicht wäre er ja einverstanden gewesen.«
»Ja, und dann hätten wir die Beute mit allen teilen müssen«, schnaubte Kelly. »Ich denke gar nicht daran. Rowlf geht mir mit seinen bekloppten Ansichten sowieso schon seit langem auf die Nerven. Seit er das Kommando hat, ist doch nichts mehr los.«
»Den meisten von uns geht es immerhin wesentlich besser als früher«, wandte Norris ein. Die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel ihm nicht. Rowlf hatte ihm mehr als einmal aus Schwierigkeiten herausgeholfen und er fühlte sich ihm verpflichtet. Außerdem mochte Norris ihn und stimmte mit den meisten seiner Ansichten überein. Deshalb behagte es ihm gar nicht, wie Kelly gegen Rowlf hetzte und den geplanten Bruch als eine Art von Revolte zu betrachten schien. Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht mitkommen sollen.«
»Unsinn.« Kellys Stimme klang verärgert, vor allem aber ungeduldig. »Aber ich glaube allmählich, dass es ein Fehler war, dich überhaupt mitzunehmen. Hätte ich stattdessen doch bloß Steve gefragt. Der hat mehr Mumm. Der hätte sich mit Sicherheit nicht so angestellt.«
Norris packte ihn blitzschnell am Kragen.
»He, versuch nicht, mich für blöd zu verkaufen, hörst du? Du hast mit Steve gesprochen, ich hab’s nämlich zufällig mitbekommen. Aber er hatte keine Lust, sich nochmal auf eine von deinen verrückten Ideen einzulassen. Der war klüger als ich, aber ich lass’ mich von dir
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