Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
Schlagen eines Herzens, und es verstärkte sich mit jeder Sekunde.
Norris sprang auf, aber noch bevor er dazu kam, sich Gedanken darüber zu machen, was dieses neuerliche Phänomen zu bedeuten hatte, hörte er plötzlich Schritte, die sich ihm näherten.
Jähe Hoffnung keimte wieder in ihm auf. Der einzige Mensch, der sich außer ihm noch hier befand, war Kelly und nun trafen sie sich endlich wieder. Gemeinsam würden sie einen Ausweg finden, davon war er überzeugt. An diesen Gedanken klammerte Norris sich, er verlieh ihm frische Kraft. Die Laterne mit ausgestrecktem Arm vor sich haltend, rannte er los, den Schritten entgegen, die er nun immer deutlicher hörte. Vor ihm beschrieb der Gang einen Knick. Kelly musste sich direkt dahinter befinden. Norris jagte um die Biegung und blieb dann stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.
Die Gestalt stand kaum drei Schritte von ihm entfernt, aber es war nicht Kelly.
Es war überhaupt kein Mensch.
Die Kreatur war riesig, fast so groß wie zwei Männer. Obwohl sie direkt im Lichtschein der Laterne stand, waren ihre Umrisse nur verschwommen sichtbar, als wäre sie hinter einem Nebelschleier verborgen, der verhinderte, dass er sie deutlich erkennen konnte. Allerdings legte Norris darauf auch keinerlei Wert. Was er sah, reichte aus, um ihn mit nackter, grenzenloser Panik zu erfüllen. Das Blut in seinen Adern schien zu Eiswasser zu gefrieren.
Statt von Haut war der Körper des Ungeheuers von bräunlich-grünen Schuppen bedeckt. Es besaß kurze, stämmige Beine, auf denen ein unförmiger, aufgedunsener Rumpf ruhte, aus dessen oberer Hälfte zahlreiche peitschendünne, sich in der Luft wie Schlangen windende Tentakel sprossen. Darüber saß ein klobiger Kopf, der von einem einzelnen, in düsterem Rot glosenden Auge und einem weit vorstehenden, papageienartigen Schnabel beherrscht wurde, dessen Knacken Norris einen eisigen Schauder über den Rücken trieb. Er war unfähig sich zu bewegen. Sekundenlang starrte er die Kreatur nur mit weit aufgerissenen Augen an, dann endlich gelang es ihm, den Mund zu öffnen.
Er begann gellend zu schreien und im gleichen Moment verschwand der Spuk. Die Umrisse der Kreatur zerfaserten, als würde sie sich auflösen, und an ihrer Stelle entstand eine andere, vertraute Gestalt. Aus dem einen roten Auge wurden zwei braune, der Papageienschnabel verwandelte sich in einen Mund und eine Nase und auch der übrige Körper wurde zu dem eines Menschen.
Norris verstummte. Er blinzelte ein paar Mal, strich sich mit der Hand über die Stirn und starrte Kelly an, der seinen Blick ebenso verständnislos erwiderte.
»Was … was ist los mit dir?«, fragte er verwirrt. »Ich weiß, ich sehe wahrscheinlich schrecklich aus, aber das ist kein Grund, gleich loszuschreien, als ob du ein Gespenst gesehen hättest.«
Norris schluckte.
»In gewisser Hinsicht habe ich das auch«, murmelte er. In seinem Kopf drehte sich alles. Er suchte nach Worten, um zu beschreiben, was er gesehen hatte, doch es gelang ihm nicht. Davon abgesehen würde ihn Kelly sicherlich für verrückt halten und vielleicht hatte er damit ja sogar Recht. Das Ungeheuer, das er sich eingebildet hatte, konnte nur der Phantasie eines Wahnsinnigen entspringen. Aber nach all dem Unbegreiflichen, das er in den vergangenen Stunden in diesem Irrgarten erlebt hatte, war es auch kein Wunder, wenn er allmählich den Verstand verlor. »Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dich wiederzusehen.«
Er wollte auf Kelly zueilen und ihn vor Erleichterung umarmen, aber es gelang ihm nicht die Füße vom Boden zu heben, um die kaum drei Yards zu überwinden, die sie trennten. Der Mann vor ihm war ohne Zweifel Kelly, mit dem er bereits seit vielen Jahren befreundet war, aber noch immer erinnerte er sich allzu deutlich an die Albtraumkreatur, die er an seiner Stelle zu sehen geglaubt hatte, und die bloße Erinnerung daran verhinderte, dass er sich Kelly näherte.
»Im Gegenteil, das glaube ich dir sogar gerne«, behauptete Kelly. »Ich bin ebenfalls froh, dass ich dich endlich gefunden habe.«
»Was … was hat das alles zu bedeuten?«, stieß Norris hervor. »Wo sind wir hier bloß hingeraten?«
»Das weiß ich auch nicht. Aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Ich habe den Ausgang aus diesem Labyrinth gefunden. Komm mit, ich bringe uns hier heraus.«
Die Nachricht erfüllte Norris mit neuer Hoffnung. Es war ihm egal, was hier passierte, solange es ihm nur gelang, diesem Albtraum wieder zu
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