Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
aber ich war nicht besonders beleidigt. Dies war wahrscheinlich nicht der richtige Moment, um Freundlichkeiten auszutauschen. Außerdem hatte ich das ungute Gefühl, dass unsere Bekanntschaft nicht mehr lange genug währen würde, als dass es sich lohnte, sich seinen Namen zu merken.
Ich stand vorsichtig auf, halbwegs darauf gefasst, sofort wieder zurückgestoßen zu werden, aber die Männer in den roten Mänteln wichen ganz im Gegenteil fast respektvoll vor mir zurück. Nur mein direktes Gegenüber rührte sich nicht, sondern maß mich weiter aus seinen unangenehmen, kalten Augen.
»Sie sind schneller gekommen, als ich dachte«, sagte er schließlich.
Ich sah ihn fragend an. »Was … soll das heißen?«
»Mister Craven, bitte enttäuschen Sie mich nicht«, sagte der andere. »Sie wollen mir nicht ernsthaft weismachen, dass Ihnen Ihr Freund Howard nichts von unserer … Begegnung erzählt hat.«
»Howard?«, fragte ich überrascht.
»Haben Sie wirklich geglaubt, er wäre uns entkommen?« Der Bursche lachte leise. Es war kein sehr angenehmes Geräusch. »Das können Sie nicht im Ernst annehmen.«
Es dauerte einen Moment, bis ich wirklich begriff, was diese Worte bedeuteten. »Howard?«, murmelte ich. »Sie haben ihn -«
»Entkommen lassen, selbstverständlich«, sagte der Fremde. Er lachte wieder. »Er wäre gewiss sehr wertvoll für uns gewesen, aber noch viel wertvoller war er als Köder.«
»Für mich«, murmelte ich düster.
»Ganz recht. Es war meine Hoffnung, dass er Sie hierher locken würde. Es gibt jemanden, der sich sehr, wirklich sehr darauf freut, mit Ihnen zu reden, Mister Craven. Kommen Sie?«
Er machte eine einladende Geste und trat einen Schritt zur Seite; und als ich sah, wer hinter ihm stand, fuhr ich unwillkürlich zusammen. Überrascht, wohlgemerkt, nicht erschrocken.
Die Gestalt war allerhöchstens halb so groß wie er und trug die gleiche Art von lebendem Kleidungsstück wie die anderen Männer, nur dass dieser Mantel von einer viel intensiveren, satteren Rotfärbung war; eine Farbe, die Assoziationen an frisches Blut und Tod weckte. Das war es aber nicht allein, was mich so in Erstaunen versetzte. Es war das Gesicht.
Das Gesicht eines Kindes. Eines Jungen, um genau zu sein, auch wenn es ein Detail in diesem Antlitz gab, das den Eindruck Lügen zu strafen schien, einem fünf- oder sechsjährigen Knaben gegenüberzustehen: die Augen. Augen wie Stahl, die mich hart und so voller Hass anblickten, dass mir unwillkürlich ein kalter Schauder über den Rücken lief.
Ich kannte diesen Jungen.
Ich hatte ihn schon einmal gesehen, damals, als ich das erste Mal in diesem unterirdischen Labyrinth gewesen war. Es war der Junge, den ich aus dem See gezogen hatte …
»Hallo«, sagte ich unsicher.
Der Junge schwieg, aber etwas in seinem Blick änderte sich. Er wurde noch unangenehmer, obwohl ich das vor einer Sekunde nicht einmal für möglich gehalten hätte.
»Du … erinnerst dich doch, oder?«, fragte ich behutsam.
Diesmal bekam ich wenigstens ein angedeutetes Nicken zur Antwort, wenn auch sonst nichts.
»Hör mal«, fuhr ich fort. »Was damals passiert ist, das … das nimmst du mir doch nicht übel, oder? Ich meine, so ein kleines Missverständnis kann doch schließlich -«
»Schweigen Sie, Mister Craven«, unterbrach mich der Junge. »Wir haben keine Zeit, um Unsinn zu reden.«
Etwas an dieser Formulierung gefiel mir überhaupt nicht, aber ich war klug genug, nicht weiter zu widersprechen, sondern den Jungen nur fragend anzusehen. Er erwiderte meinen Blick mehrere Sekunden lang ebenso schweigend, aber aus Augen, die vor Hass zu brennen schienen; einem Hass, der einem Jungen dieses Alters eigentlich nicht zustand. Und der einfach nicht grundlos sein konnte. Ich konnte mich nur beim besten Willen nicht daran erinnern, diesem Kind jemals begegnet zu sein, bevor ich ihn in der unterseeischen Höhle traf. Und die harmlose Abreibung, die ich ihm versetzt hatte (wenn man es genau nahm, so hatte sowieso eher er mich als ich ihn verprügelt!), konnte unmöglich der Grund für diesen mörderischen Hass in seinen Augen sein.
Mir blieb allerdings nicht besonders viel Zeit, weiter über dieses Rätsel nachzudenken, denn einer der Männer hinter mir verlieh den Worten des Jungen den gehörigen Nachdruck, indem er mir einen Stoß zwischen die Schulterblätter versetzte, der mich um ein Haar von den Füßen gerissen hätte. Im letzten Moment fand ich mein Gleichgewicht wieder und stolperte mehr
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