Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
so verfallen das Haus auch war, boten seine heruntergekommenen Mauern doch zumindest hinlänglichen Schutz vor dem Wind. Er war hierher gekommen, weil ihm kühl gewesen war, nicht mehr, aber anstatt dieser kleinen Unbill zu entgehen, fror er nun erbärmlich und daran vermochte auch das kleine Feuer aus Papier und Holzspänen, die er in der Ruine zusammengeklaubt hatte, nichts zu ändern. Ganz im Gegenteil – McGiven hielt die Hände so dicht über die ruhig brennenden Flammen, dass er Gefahr lief, sich die Finger zu verbrennen, und trotzdem fühlte er die Wärme nicht einmal wirklich. Es war, als strahlten diese Flammen keine Hitze aus – oder als wäre etwas da, das die Wärme schneller wieder verzehrte, als sie entstehen konnte. Und das Verrückteste war, dachte McGiven, dass er nicht einmal wirklich sicher war, dass dieses Gefühl unwirklicher Kälte tatsächlich von außen kam. Er schien ihm vielmehr so, als entstünde es irgendwie in ihm.
McGiven verscheuchte den Gedanken, drehte die linke, zur Faust geballte Hand dicht über den Flammen und führte mit der anderen die in schmuddeliges Zeitungspapier eingewickelte Schnapsflasche zum Mund, um einen weiteren, gewaltigen Schluck zu trinken. Der Alkohol schmeckte scharf und vertraut wie immer, aber das gewohnte Gefühl der Wärme, das seine Kehle hinabrinnen und sich vom Magen her in seinem Körper ausbreiten sollte, blieb aus. Ganz im Gegenteil schien ihm beinahe noch kälter zu werden, als hätte sich auch die Wirkung des Alkoholes genau umgekehrt, sodass er seinen vor Kälte schlotternden Glieder auch noch das letzte bisschen Wärme entzog, statt ihm wenigstens die Illusion zu geben, dass er die Kälte vertrieb.
Unheimlich.
Vielleicht, dachte McGiven, lag es an diesem Haus. Während er die Flasche sorgsam wieder zuschraubte und sie nun in die linke Hand nahm, um die Rechte über die Flammen zu halten, die doch keine Wärme mehr spendeten, tastete sein Blick über die schmutzigen, verfallenen Wände ringsum, den eingesunkenen Fußboden und die nur noch andeutungsweise vorhandene Decke, durch die man fast ungehindert durch drei darüberliegende Etagen und das Skelett des Dachstuhles hindurch den Himmel sehen konnte.
Das Hansom-Haus – der Hansom- Komplex, verbesserte er sich in Gedanken – war nicht einfach nur eine Ruine, wie es sie in diesem Teil Londons gar nicht einmal so selten gab. Er war wie ein Sinnbild für den vergeblichen Versuch des Menschen, Spuren in der Zeit zu hinterlassen und den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen zu durchbrechen.
Und wie alle diese Versuche war er von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Nach der Fertigstellung des Hansom-Komplexes vor rund acht Jahren hatte man vom Beginn eines neuen Zeitalters der Architektur gesprochen, den gewaltigen Häuserblock als eines der modernsten Bauwerke der Welt und ein Monument für die Ewigkeit gefeiert, hatte es einen Triumph menschlicher Kreativität genannt. Kluge Köpfe hatten noch andere, größere Worte dafür gefunden.
Aber das war lange her.
Jetzt war es nur noch ein Triumph des Alters und Zerfalls, ein Symbol für das Scheitern der hochtrabenden Pläne, die zu seinem Entstehen geführt hatten.
Und im Grunde, so gestand sich McGiven ein, galt das nicht einmal nur für das Haus, sondern auch für sein eigenes Leben.
Früher einmal, in einer Zeit, die Jahrhunderte und nicht erst ein knappes Jahrzehnt zurückzuliegen schien, hatte er zusammen mit Emily in einer zwar stets feuchten, ansonsten jedoch gut erhaltenen und geräumigen Wohnung gelebt. Er hatte gearbeitet und jede Woche genügend Lohn für ein Leben in geordneten, wenn auch bescheidenen Verhältnissen nach Hause gebracht. Emily hatte nebenbei mit kleinen Näharbeiten und Stickereien ein hübsches Zubrot verdient, sodass es ihnen sogar gelungen war, jede Woche eine kleine Summe zurückzulegen. Sie hatten davon geträumt, sich irgendwann ein kleines Häuschen kaufen zu können, und sie hatten Kinder haben wollen.
»Kinder.«
McGiven seufzte, setzte die bereits zu zwei Dritteln geleerte Flasche erneut an die Lippen und trank einen weiteren Schluck. Mehr, als er sich leisten konnte, im Grunde. Die Flasche hätte noch bis morgen reichen müssen und sie hätte es getan, hätte er sie sich wie gewohnt eingeteilt. Aber ihm war kalt. Er würde es später bitter bereuen, sich seinen Schnapsvorrat nicht besser eingeteilt zu haben, aber irgendetwas musste er schließlich gegen die Kälte tun.
Und die
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