Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
richtete mich wieder auf und trat einen Schritt zurück, und in diesem Moment hörte ich den Schrei. Er war sehr leise, sehr weit entfernt – gerade noch auf jener imaginären Grenze, an der man nicht sicher sein konnte, ob er wirklich da oder nur eingebildet war. Aber im nächsten Moment hörte ich ihn schon wieder.
Es war der Schrei eines Kindes.
Und ab da wurde die Geschichte eindeutig unangenehm.
Blitzartig schossen mir ein Dutzend Möglichkeiten durch den Kopf – angefangen von der, dass ich schlicht und einfach Halluzinationen hatte, bis hin zu der, dass dort unten tatsächlich der verzweifelte Hilferuf eines Kindes erklungen war.
Das eine erschien mir so unmöglich wie das andere, aber ich konnte auch nicht einfach dastehen und so tun, als wäre nichts geschehen. Schweren Herzens setzte ich einen Fuß auf die oberste Stufe und folgte dem Kater.
Allerdings nur wenige Schritte weit.
Der Treppenschacht, der auf so unheimliche Weise in meinem Wandschrank aufgetaucht war, war nicht nur völlig unmöglich, er war auch vollkommen finster. Heldenmut hin oder her – oder was immer man auch dafür halten mochte – ich würde niemandem helfen, wenn ich im Dunkeln gegen ein Hindernis prallte oder auf einer der ausgetretenen Stufen ausglitt und mir den Hals brach. Von allen anderen unangenehmen Überraschungen, die mir meine Phantasie mit sadistischer Detailfreude vorgaukelte, ganz zu schweigen.
Was, wenn die Treppe plötzlich im Nichts endete und statt der erwarteten Stufe ein Abgrund dort gähnte, wohin ich meinen Fuß setzte, oder wenn der Treppenschacht außer Schimmelpilzen und Moder noch andere, möglicherweise weit unangenehmere Bewohner hatte, oder, oder, oder …
Ich zog es vor, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen, sondern machte auf der Stelle kehrt und ging in meine Suite zurück. Der Kater miaute protestierend, aber ich ließ mich auch jetzt nicht auf eine Diskussion mit ihm ein.
»Tut mir Leid«, sagte ich noch einmal bestimmt. »Du kannst ja vielleicht im Dunkeln sehen, aber ich nicht. Warte hier, ich komme so schnell wie möglich zurück.« Und damit schloss ich die Tür, durchquerte eilig das Zimmer und trat auf den Korridor hinaus.
Zu meiner Erleichterung begegnete ich weder MacIntosh noch der fetten Frau, während ich hinunter zur Rezeption eilte und den völlig perplexen Empfangschef mit meiner Forderung nach einer Petroleumlampe konfrontierte.
»Eine Lampe?« Der Mann warf einen schrägen Blick nach draußen. Es hatte gerade erst zu dämmern begonnen. »Ist mit der Beleuchtung in Ihrem Zimmer etwas nicht in Ordnung?«
Ich dachte angestrengt über eine plausible Begründung für meine zugegeben etwas ungewöhnliche Bitte nach, doch in diesem Moment sah ich meinen Freund, MacIntosh, aus den Augenwinkeln auftauchen, und der Ausdruck gerechter Empörung auf seinem Gesicht ließ mich auch noch meine letzten Hemmungen über Bord werfen.
»Bisher nicht«, antwortete ich. »Aber was nicht ist, kann ja noch werden, nicht wahr? Nach allem, was ich in Ihrem famosen Hotel bisher erlebt habe, möchte ich nicht mitten in der Nacht aufwachen und feststellen müssen, dass die Beleuchtung ausgefallen ist.«
»Mister Craven, ich kann Ihnen versichern -«, begann der Portier, aber ich schnitt ihm roh – und ein kleines bisschen lauter, als nötig gewesen wäre – das Wort ab.
»Ihre Versicherungen in Ehren, guter Mann, aber ich möchte eine Lampe. Und wenn wir schon einmal dabei sind: Besorgen Sie doch zwei, drei Mausefallen, ja? Ich glaube, ich habe Ungeziefer in meinem Zimmer.«
Ich hörte ein Ächzen hinter mir, aber das Geräusch des in Ohnmacht fallenden Managers blieb aus. Schade eigentlich. Während der Portier ging, um meinem Wunsch nachzukommen und eine Lampe zu besorgen, drehte ich mich herum und maß MacIntosh so kühl, wie es mir angesichts meines wahren Gemütszustandes gerade noch möglich war.
»Mister Craven, ich glaube, wir müssen uns unterhalten«, sagte er. Irgendwie schaffte er es tatsächlich noch, seine Fassung zu bewahren – aber seine Augen hatte er nicht in der Gewalt. In seinem Blick war ein Flackern, das mich zur Vorsicht gemahnt hätte, wäre er einen Meter größer und ungefähr doppelt so schwer gewesen. So antwortete ich gelassen:
»Ja. Sobald ich Zeit dafür habe. Im Moment möchte ich lieber versuchen, mein Zimmer in einen Zustand zu versetzen, der seinem Preis wenigstens halbwegs angemessen erscheint.«
»Das Einfachste wäre dann, Sie würden ausziehen«,
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