Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
dort, unendlich tief unter mir ausbreitete, das war ein unvorstellbar großes Relief, ein Bild, das eine Geschichte erzählte, die ich kannte, auch wenn ich sie in diesem Moment vielleicht noch nicht wirklich verstand.
Und es gab noch einen zweiten Grund, aus dem ich ungläubig die Augen aufriss.
Der Stollen endete tatsächlich hoch oben in der Wand der Höhle, aber es gab nur ein kurzes Stück darunter einen gut drei Meter breiten Absatz an der Wand, der sich wie eine steinerne Galerie rings um die gesamte Höhle zu ziehen schien. Meine Füße, die ich noch immer mit aller Kraft in winzige Unebenheiten und Risse der Wand presste, befanden sich ungefähr fünf Zentimeter darüber.
Vielleicht waren es auch nur drei.
Auf dem Weg hinunter zum Boden dieser unmöglichen Höhle ging mir etwas verloren, von dem ich mir bis zu diesem Augenblick gar nicht mehr bewusst gewesen war, dass ich es besaß: der Bezug zur Wirklichkeit.
Die Galerie führte in beiden Richtungen an der Wand des Hohlraumes entlang, so weit mein Blick reichte, und obwohl ich nicht mehr über meine Lampe verfügte, konnte ich jetzt weitaus besser sehen als vorhin. Was immer es gewesen war, das das Licht – oder besser: den sichtbaren Teil davon – aufzehrte, es war auch hier vorhanden, aber nicht mehr so intensiv wie in den Stollen des Labyrinths, und so entdeckte ich die Treppe bereits, als ich noch gute zwanzig oder dreißig Schritte davon entfernt war.
Jedenfalls redete ich mir ein, dass es eine Treppe war. Die steinernen Stufen waren direkt aus dem Fels herausgemeißelt und keine war breiter als zwei nebeneinander gelegte Hände – dafür aber waren sie alle unterschiedlich hoch und zum Teil von unterschiedlicher Form – und dass es so etwas wie ein Geländer nicht gab, muss im Grunde wohl nicht mehr erwähnt werden.
Unter normalen Umständen hätten mich keine zehn Pferde dazu gebracht, auch nur einen Fuß auf diese Treppe zu setzen – sie führte so jäh in die Tiefe, dass schon die geringste Unachtsamkeit mit nichts anderem als einem tödlichen Sturz enden konnte, und bei ihrem bloßen Anblick wurde mir schwindelig.
Aber die Umstände waren nicht normal. Mein vierbeiniger Führer hüpfte die Stufen hinunter, als wäre es die breite Freitreppe vor dem Buckingham-Palace, und was geschehen würde, wenn ich mich abermals auf eigene Faust auf den Weg machte, konnte ich mir lebhaft genug vorstellen, um diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen.
Und außerdem waren da immer noch die Schreie.
Ich hatte sie wieder gehört, als sich mein rasender Herzschlag beruhigt und ich aufgehört hatte, mich in Gedanken selbst zu beschimpfen, und wahrscheinlich waren sie die ganze Zeit über auch nicht wirklich abgebrochen, sondern ich hatte sie einfach nicht mehr wahrgenommen. Allerdings hatten sie sich geändert – was ich jetzt hörte, war eher ein Wimmern und verzweifeltes Schluchzen, in das sich nur noch ab und an ein halbherziger Schrei mischte.
Also warf ich alle meine Hemmungen über Bord, redete mir selbst ein, dass mir gar nichts passieren konnte, wenn ich nur die Nerven behielt, und machte mich daran, eine ungefähr eine halbe Meile hohe, halsbrecherisch steile Steintreppe hinunterzukraxeln, die so schmal war, dass ich mit eng an die Wand gepresstem Rücken und seitwärts hinuntergehen musste.
Ich konnte hinterher nicht sagen, wie lange ich gebraucht hatte – aber es war nicht einmal annähernd so lange gewesen, wie ich fürchtete, denn auf dem Weg nach unten geschah etwas sehr Sonderbares.
Ich verlor schon nach den ersten Schritten jegliche Furcht. Der Abgrund, der lauernd unmittelbar neben meinen Füßen darauf wartete mich zu verschlingen, erschreckte mich plötzlich nicht mehr, denn irgendetwas in mir schien einfach zu wissen, dass mir nichts geschehen würde. Bald ging ich schneller und nach einer Weile gab ich meine übervorsichtige Art des Gehens ganz auf und folgte dem Kater ebenso schnell und ebenso sicher, wie er die Treppe hinunterrannte.
Und als ich schließlich ihr Ende erreichte, war die Höhle verschwunden.
Im ersten Moment bemerkte ich es nicht einmal. Von oben hatte ich gesehen, dass die Treppe in einer der weniger breiten, aber sehr tiefen Schluchten endete, die in ihrer Gesamtheit dieses unheimliche Relief bildeten, sodass mir an den schwarzen, zu beiden Seiten steil aufragenden Wänden des Ganges, in dem ich herauskam, gar nichts auffiel. Aber dann blickte ich – eigentlich nur durch Zufall – nach oben und was
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