Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
hatte, begann zu brodeln. Grauer, ätzender Rauch stieg in die Höhe. Es verging kaum eine Minute und von dem Papierfetzen war nichts mehr geblieben.
Was ich für Wasser gehalten hatte, war nichts anderes als ein Säuresee. Hätte mich nicht eine innere Stimme gewarnt und davon abgehalten, die Hand hineinzutauchen …
Ich zog es vor nicht darüber nachzudenken, was dann geschehen wäre – zumal ich in diesem Moment etwas entdeckte, was auch nicht unbedingt dazu angetan war, meine Stimmung zu bessern. Der Strand war nämlich keineswegs so leer, wie ich bisher angenommen hatte. Hier und da lugten größere Steine und abgebrochene Äste aus dem Sand – nur, dass es keine Steine und Äste waren, so wenig, wie der Sand wirklich Sand war.
Das, worauf ich saß, waren winzige Knochensplitter und bei den größeren Bruchstücken, die hier und da daraus hervorragten, handelte es sich ebenfalls um Knochen – menschliche Knochen. Ich sah einen Teil eines Schädels, eine skelettierte, nur mehr dreifingrige Hand, das Stück eines Unterschenkelknochens und einen halben Brustkorb … ich hätte die Aufzählung noch beliebig lange fortsetzen können, aber worauf meine Entdeckung hinauslief, das war ebenso simpel wie erschreckend.
Ich hockte mitten in einem gewaltigen Grab …
Mir blieb nicht einmal Zeit, das Entsetzen, das mit dieser Erkenntnis einherging, wirklich zu verarbeiten. Plötzlich war der See nicht mehr schwarz. Unter seiner Oberfläche, tief, erschreckend tief im Wasser, begann ein giftgrünes, flackerndes Licht zu lodern, ein kaltes Feuer, das direkt aus der Tiefe des Sees emporstieg und vor dessen Schein sich etwas bewegte, ein großer, sich windender Umriss, der rasch größer wurde und näher kam, lautlos, aber so schnell, dass mir nicht einmal Zeit blieb einen Schreckensschrei auszustoßen, geschweige denn, irgendetwas zu tun.
Und dann brach ein Ungeheuer durch die schäumende Oberfläche des Säuresees. Spritzer der ätzenden Flüssigkeit regneten auf mich herab, sodass ich mich hastig zur Seite warf und schützend die Hände über das Gesicht riss. Ich erkannte das, was der See ausspie, nur als Schemen – und trotzdem war dieser flüchtige Eindruck schon beinahe mehr, als ich sehen wollte.
Es war eine Ausgeburt der Hölle, ein zum Leben erwachter Fiebertraum, wie er schlimmer nicht sein konnte. Das Ding war gewaltig und es schien ein schrecklicher Zwitter zwischen einem Menschen und einem pumpenden, warzenübersäten Balg zu sein, aus dem Dutzende riesenhafter Tentakel hervorwuchsen. Ich sah einen schrecklichen, zahnbewehrten Schnabel und gewaltige Glotzaugen, aber auch einen durchaus menschlichen Körper, der auf unmöglich anmutende Weise mit der Chimäre verwachsen zu sein schien.
Keuchend vor Schmerz stürzte ich zu Boden. Wo die Spritzer meine Kleider getroffen hatten, kräuselte sich grauer Rauch empor, wo sie meine Haut berührten, brannte sie wie Feuer. Ich krümmte mich vor Schmerz.
Und wahrscheinlich rettete mir dies das Leben, denn einer der peitschenden Tentakel zischte wie eine angreifende Schlange nur um Haaresbreite über mich hinweg, hämmerte mit einem dumpfen Laut in die Knochensplitter und zermalmte sie. Verzweifelt wälzte ich mich zur Seite, kämpfte mich auf Händen und Knien hoch und kroch vor dem See und dem brüllenden, kreischenden Ungeheuer zurück.
Und in diesem Moment erkannte ich meinen Irrtum.
Was ich für ein schreckliches Zwitterwesen gehalten hatte, bestand in Wirklichkeit aus zwei Körpern. Da war das Ungeheuer, ein grässliches Krakenmonster mit zahllosen peitschenden Armen, und da war ein menschlicher Körper, der sich mit verzweifelter Kraft gegen den erstickenden Griff des Monsters wehrte und aus Leibeskräften schrie.
Es war ein Kind. Das Kind, dessen Schreie ich gehört und die mich letzten Endes hier heruntergeführt hatten!
Ich dachte in diesem Moment nicht mehr nach. Ich sah nur undeutlich das Kind, einen vielleicht zehn-, zwölfjährigen Jungen, der sich in Todesqualen wand, und das Ungeheuer, das ihn mit Dutzenden von Armen zugleich umklammert hatte und ihn wieder in die Tiefe des Sees hinabzerren wollte. Keine einzige der zahllosen Unmöglichkeiten an diesem Bild fiel mir in diesem Moment auf.
Blindlings sprang ich in die Höhe, rannte mit weit ausgreifenden Schritten um den See herum und raffte noch im Laufen einen spitzen Knochen auf, die einzige Waffe, derer ich habhaft werden konnte. Der Junge kämpfte mit der absoluten Kraft der Todesangst gegen
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