Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
das Ungeheuer, aber sein Widerstand erlahmte bereits.
Als ich das jenseitige Ufer des Sees erreichte, war aus seiner verzweifelten Gegenwehr schon ein kraftloses Strampeln geworden und der Leib des Krakenmonsters begann wieder in die Tiefe zu sinken. Die Kleider des Jungen schwelten. Sein Haar war verkohlt und seine Haut war rot.
Mit aller Gewalt schwang ich meinen improvisierten Speer und rammte ihn tief in den Leib des Ungeheuers.
Ein spitzer, pfeifender Schrei erklang. Der Blick der riesigen starrenden Augen richtete sich direkt auf mich und eine Sekunde später zuckten vier, fünf gewaltige Tentakel in meine Richtung. Ich wich den meisten aus, aber einer schlang sich um mein rechtes Bein und riss mich mit einem Ruck zu Boden.
Ich fiel, schlug instinktiv mit dem Knochen zu und spürte, wie ich traf. Aber der Hieb hatte nicht die geringste Wirkung. Es war, als hätte ich auf einen dicken Gummischlauch geschlagen. Der Knochen federte zurück und wäre mir um ein Haar aus der Hand geprellt worden.
Aber zugleich wurde ich mit unbarmherziger Kraft auf den See zugezerrt.
Meine Füße gerieten in die Säure. Das Leder meiner Schuhe begann Blasen zu werfen und zu schwelen, und eine Sekunde später raste ein unvorstellbarer Schmerz durch meine Beine. Ich schrie gellend auf, warf mich mit aller Kraft zurück und stach blindlings mit dem Knochen auf den Tentakel ein. Irgendwie musste ich ihn wohl auch getroffen haben, denn für eine Sekunde lockerte sich sein Griff – und ich nutzte die Chance, um mich endgültig loszureißen und hastig wieder ein Stück vom Ufer zurückzukriechen.
Dem Wunder, dass ich überhaupt noch lebte, schloss sich ein neues an. Ich war für Sekunden vollkommen hilflos. Das dicke Leder meiner Schuhe hatte mich wohl vor schlimmeren Verletzungen bewahrt, aber die Schmerzen waren für den Augenblick so groß, dass ich mit einer Bewusstlosigkeit kämpfte. Hätte das Ungeheuer mich in diesem Moment erneut angegriffen, wäre ich vollkommen hilflos gewesen.
Doch es verzichtete darauf. Als sich die blutigen Schleier vor meinen Augen lichteten, begegnete ich seinem Blick, einem Blick, der so voller Bosheit, so voller Hass und dem Versprechen auf kommende Vernichtung war, dass ich innerlich aufstöhnte.
Ein Wald zitternder Tentakel erhob sich über mir. Aber der tödliche Hieb, auf den ich wartete, kam nicht. Sekundenlang starrte mich das Ungeheuer noch hasserfüllt an, dann glitt es langsam wieder in sein schwarzes, ätzendes Element zurück und versank in der Tiefe.
Trotzdem war ich nicht allein.
Ich hörte ein Geräusch hinter mir und drehte mich halb herum.
Das Monstrum hatte nicht nur darauf verzichtet, mich anzugreifen. Es hatte auch sein Opfer losgelassen. Der Knabe stand unmittelbar hinter mir und er bot einen wahrhaft entsetzlichen Anblick: Seine Kleider waren von der Säure verkohlt und sein Schädel fast kahl. Seine Haut war verätzt und seine Lippen waren zu einem schrecklichen Totenkopfgrinsen erstarrt.
Und trotzdem war es nicht das, was mir vor Schrecken schier das Blut in den Adern gerinnen ließ.
Der Junge hatte sich ebenfalls mit einem spitzen Knochensplitter bewaffnet, den er wie einen Dolch in beiden Händen hoch über dem Kopf hielt – und genau in diesem Moment damit nach meinem Gesicht stieß.
Meine verzweifelte Abwehrbewegung kam zu spät. Ich warf mich zur Seite und versuchte zugleich nach den Beinen des Jungen zu treten, aber ich war nicht schnell genug. Der Knochendolch fuhr herab – und bohrte sich nur eine Fingerbreite neben meinem Gesicht in den Boden.
Den Bruchteil einer Sekunde darauf stürzte der Junge rücklings auf den Strand, ließ seine Waffe fallen und griff mit beiden Händen nach dem fauchenden, goldfarbenen Monster, das plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht war und mit Zähnen und Krallen auf sein Gesicht einschlug.
Ich war im allerersten Moment viel zu perplex, um überhaupt zu reagieren. Erst nach Sekunden stemmte ich mich hoch, kroch auf Händen und Knien zu dem Jungen hin und versuchte, den Kater von ihm herunterzuzerren.
Ich brauchte meine ganze Kraft dafür, denn das Tier gebärdete sich plötzlich wie toll. Zwei, drei Mal hintereinander stieß ich es zurück und ebenso oft fuhr es mit einem wütenden Fauchen und unglaublich schnell herum, um sich erneut auf den Jungen zu stürzen. Schließlich wusste ich mir nicht anders zu helfen, als ihm einen derben Hieb mit der flachen Hand zu versetzen, der es meterweit davonkugeln ließ.
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