Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
lebte.
Nein, leben war das falsche Wort.
Es war. Es bedeutete irgendetwas.
Es enthielt etwas.
Es war ein Gefängnis, ein Behälter, ein Fluch – alles, nur nicht das, was es zu sein schien, ein bizarres Relief nämlich, das irgendjemand oder -etwas in den Stein geritzt hatte.
Ich spürte den finsteren, unendlich mächtigen Geist, der in die verschlungenen Linien und Vertiefungen gebannt war, die gleichen sinnverwirrenden Zeichen, wie ich sie auf dem Stein gesehen hatte, den Hasseltime bei sich gehabt hatte, und mit einem Mal wusste ich mit unerschütterlicher Sicherheit, dass der Brocken von diesem Relief stammte. Deutlich verspürte ich eine unvorstellbare Macht, die von den Fesseln einer düsteren Magie gehalten, aber nicht wirklich gebändigt wurde – und die unsichtbare Verbindung, die zwischen diesem Relief und dem Jungen bestand.
Jemand schrie. Der Laut riss mich in die Wirklichkeit zurück. Ich fuhr herum, sah eine panisch um sich schlagende Gestalt, die vor meinen Augen von der Wand verschlungen wurde, und begriff im gleichen Moment, dass all dies wirklich geschah, vielleicht nicht hier und jetzt, aber irgendwo und irgendwann.
Es war kein Traum. Die schemenhaften Gestalten waren lebende Menschen, deren Tod ich hilflos mit ansehen musste. Als ich den Stollen betreten hatte, waren es noch fünf oder sechs Männer gewesen. Jetzt gewahrte ich gerade noch drei und auch von denen begann einer bereits in den Steinboden einzusinken, der sich unter ihm zu verflüssigen schien. Ich blickte in ein angstverzerrtes Gesicht, in Augen, die nur noch aus Furcht und Panik und dem verzweifelten Flehen um Hilfe bestanden, und wieder spürte ich, dass der Mann mich sah.
Der Junge lachte schallend, trat auf den im Boden versinkenden Mann zu und setzte ihm den Fuß auf die Brust. Meine eigenen Hände waren durch die Gestalt hindurchgeglitten, die ich zu halten versucht hatte, aber der Fuß des mörderischen Kindes drückte den Unglückseligen erbarmungslos und mit erstaunlicher Kraft tiefer in den weichen Boden. Schon war er fast zur Hälfte darin versunken. Noch Augenblicke und es war um den Mann geschehen.
Ob mich irgendetwas lenkte in diesem Moment, oder ob es pures Glück war – aber ich handelte ganz instinktiv. Blitzschnell trat ich vor, packte den Bengel und schleuderte ihn gegen die Wand. Ich hatte nicht alle Kraft in die Bewegung gelegt, denn trotz allem wollte ich ihn nicht schwer verletzen oder gar umbringen, aber die Wucht meines Stoßes reichte, ihn haltlos herumtaumeln und mit weit ausgebreiteten Armen gegen das Relief stolpern zu lassen.
Und hinein.
Es ging so schnell, dass ich keine Einzelheiten erkennen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde auch sein Körper durchsichtig, ganz wie der der Männer vor mir, und dann war es, als ob er plötzlich nicht mehr vor, sondern irgendwie in dem unheimlichen Bild wäre, nicht wirklich mit ihm verschmolzen und trotzdem irgendwie Teil davon. Ich hörte einen gellenden, unglaublich spitzen, panischen Schrei und dann glitt er in das Relief hinein und war verschwunden.
Und im gleichen Moment begannen auch die drei überlebenden Männer, das Relief und der schwarze Stollen vor meinen Augen zu verblassen.
Ich erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen und einem widerwärtigen Geschmack auf der Zunge. Ich konnte nicht richtig atmen und auf meiner Brust schien ein Zentnergewicht zu lasten. Außerdem schien es keinen Knochen in meinem Leib zu geben, der nicht in der einen oder anderen Form schmerzte.
Dann öffnete ich die Augen, und nachdem ich das getan hatte, musste ich einige meiner ersten Eindrücke korrigieren. Das unsichtbare Zentnergewicht, das auf meiner Brust hockte, wog nicht unbedingt Zentner, aber es war auch nicht unsichtbar, sondern hatte die Form eines goldfarbenen Katers, der mich aus seinen gelben Augen hämisch anstarrte und sich die Zeit, die ich brauchte, um vollends zu mir zu kommen, damit vertrieb, seine Krallen rhythmisch ein- und auszufahren und dabei kleine, gleichmäßige Lochmuster in meinem Hemd und der Haut darunter zu hinterlassen.
Das Hämmern war nicht in meinem Kopf, sondern irgendwo hinter mir, an der Tür, und der schlechte Geschmack war in Wahrheit ein widerwärtiger Geruch, der aus der offen stehenden Tür meines Wandschrankes drang.
Unsicher richtete ich mich auf, scheuchte den Kater von mir herunter und sah zur Tür zurück. Der Stuhl stand noch immer zuverlässig so unter der Klinke, wie ich ihn hingestellt hatte, und
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