Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
Wei-Dong (der eigentlich ein stinknormaler Amerikaner namens Leonard ist) in eines der zahlreichen Online-Games einloggt und über Voice-Chat mit anderen Spielern in Kontakt tritt – wie es die Dramaturgie will, ausgerechnet mit Spielern in China. Und während sich die beiden austauschen, zeigt der Autor die Unterschiedlichkeit ihrer Lebenswelt auf: Wei-Dong kämpft lediglich gegen seine dominanten Eltern, während es für andere Spieler auf der Welt (nicht nur in China, auch in Indien, Indonesien und vielen weiteren Schwellenländern) ums nackte Überleben geht. Und nun erfahren wir auch, warum: Mittlerweile spielen nicht mehr nur ein paar Nerds im Internet, sondern Hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt; und das Wichtigste: Sie zahlen dafür. Sie zahlen nicht nur für die Anmeldung und ihre Online-Identität, sie zahlen auch für viel bizarrere Dinge – etwa für »Abkürzungen« zu begehrten virtuellen Items und Bonuspunkten, oder sogar dafür, dass irgendein Jugendlicher in der südlichen Hemisphäre für sie weiterspielt, während sie in Europa oder in den USA schlafen gehen. Online-Spiele sind – und da ist Doctorows Vision beklemmend real – zu einem Milliarden-Dollar-Geschäft geworden, in dem nicht mehr ehrlich gespielt wird. Matthew etwa verpflichtet sich zu regelmäßigen Abgaben, da er im Team des Internetcafé-Betreibers Mr. Wing spielt (immerhin
ist er einer der schnellsten und besten Angreifer, kann also in den programmierten Welten in Rekordzeit zu Bonus-Items kommen, für die anderswo echtes Geld gezahlt wird).
Und nun folgt das nächste literarische Aha-Erlebnis: Doctorow macht nicht bei dieser Schilderung halt, er nutzt sie nicht nur für einen Thriller-Plot um von ihren Auftraggebern gejagte Jugendliche. Nein, er geht weit darüber hinaus und nimmt uns mit in die Elendsviertel Südostasiens und des indischen Subkontinents, wo die Entwicklung schon einen Schritt weiter ist: Er zeigt uns Jugendliche, die das Online-Gaming trotz aller Ausbeutung als ganz normalen Arbeitsplatz nutzen, um ihrer tristen Situation zu entgehen. Eindrücklich gezeichnete Menschen mit einer erstaunlich »echt« wirkenden Biografie, wie etwa die Inderin Yasmin, die, hin- und hergerissen zwischen Tradition und Virtualität, zu einer Art Team-Leader für eine Horde von Kindern wird, die als Kampftrupp ganze Spielgebiete erobern und um ihre Schätze erleichtern – streng illegal, versteht sich, denn den riesigen Programmierfirmen von Coca-Cola, Facebook und anderen alten Bekannten ist es natürlich ein Dorn im Auge, dass die Spieler sich nicht brav einzeln durchschlagen (und Werbung konsumieren), sondern untereinander absprechen und das Gefundene am Game-Owner vorbei weiterverkaufen. Grandios, wie der Autor die daraus resultierenden Scharmützel zwischen globalen Konzernen und einfachen Jugendlichen wie Yasmin (die von ihren Kämpfern bewundernd »General« genannt wird) schildert. Atemberaubend zu lesen, wie zwischen den beiden Seiten ein Wechselspiel aus Aufspüren, Verhindern und Austricksen entsteht.
Und Doctorow geht konsequenterweise noch einen Schritt weiter: Mitreißend schildert er, wie sich weltweit immer mehr Jugendliche zusammenschließen und so etwas wie die erste globale Gewerkschaft bilden – die »Industrial Workers of the World Wide Web« (IWWWW). Denn sie leisten in der Tat Arbeit wie alle anderen Arbeiter auch und wollen dafür entsprechend bezahlt werden. Spannender als jeder Thriller zeigt »For the Win« nun, wohin es führt, wenn sich immer mehr Underdogs gegen das Establishment auflehnen: Die um ihre Einnahmen fürchtenden Kleinkriminellen und Pseudounternehmer in den Schwellenländern führen nicht nur ganz reale Angriffe gegen Spieler durch (was diese ganz real mit Knochenbrüchen und anderen Verletzungen im Krankenhaus landen lässt), sie bestechen auch den Polizeiapparat – und in den chinesischen Großstädten kommt es zur blutigen Auseinandersetzung, als das Imperium mit aller Macht auf Kinder und Jugendliche einschlägt.
Spätestens als dabei einer der Protagonisten erschossen wird, muss uns klar sein: Dies ist kein Jugendbuch, das man liest und danach wieder zur Seite legt. »For the Win« ist ein sozialer Aufschrei, eine erschreckend echte Transformation des Virtuellen in die Realität (gewissermaßen also das exakte Gegenstück zum Cyberpunk). Es ist eine kluge und mitfühlende Kolportage aus einer Welt, die sehr schnell zu unserer eigenen werden kann. Und es ist
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