Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
Titelgeschichte, eine Erde, in der das Göttliche regelmäßig und für alle sichtbar interveniert und in der es trotzdem unerklärbares Leid gibt – eine Erde also, wie einige Leute sie sich offenbar tatsächlich vorstellen, dass sie funktioniert, aber nicht den Mumm haben, sich einzugestehen, dass das Göttliche, das wir uns vorstellen, nur in unserer Vorstellung nicht profan, nicht mit sich selbst beschäftigt ist?
Das alles ist nicht unbedingt gänzlich neues literarisches Terrain – unvergessen bleibt Philip José Farmers Story »Weitersegeln! Weitersegeln!« über die ultimative Angstsituation avant Kolumbus –, aber Chiang findet doch eine eigene Stimme: Ihm geht es um die moralischen, ja alltagsmoralischen Folgerungen; darum, dass auch vorgestellte Welten für den, der darin lebt, schmerzhaft konkret sind. Und wenn es, was die Voraussetzungslosigkeit und das Kontraintuitive betrifft, auch etwas von der Phantastik eines Jonathan Carroll hat, so ist es doch Science Fiction: Es dehnt das Mysterium, in dem wir leben und das wir wissenschaftlich oder theologisch, jedenfalls immer hermeneutisch, beschreiben, nur so weit, wie es das jeweils beschreibende System zulässt. Am wichtigsten aber ist: Ted Chiang schreibt keine epistemologischen Lehrstücke im Sinne von »Jetzt schauen wir mal, was passiert, wenn wir Gödel Gödel sein lassen« (auch wenn eine seiner spannendsten Geschichten »Division by Zero«, die in dieser Auswahl leider nicht enthalten ist, durchaus Züge einer solchen Science-Fiction-Didaktik
trägt), sondern er schreibt Ideenliteratur reinsten Wassers und erster Güte: Ideen, die sich nicht selbst genügen, sondern immer mit dem merkwürdigen Wesen, Mensch genannt, zu tun haben, das sie sich ausgedacht hat; Texte, die so fein und präzise gearbeitet sind, dass wir erst gar nicht merken, wie sehr sie uns in Staunen versetzen. Müßig zu erwähnen, dass einem Vergleichbares in der Gegenwartsprosa praktisch nie begegnet. Und müßig auch zu erwähnen, dass das, was Science Fiction ist und sein kann und was Ted Chiang seit Jahren auf exemplarische Weise betreibt, gerade erst anfängt.
Sascha Mamczak
CORY DOCTOROW
FOR THE WIN (FOR THE WIN)
Roman · Aus dem Amerikanischen von Oliver Plaschka · Wilhelm Heyne Verlag, München 2011 · 634 Seiten · € 16,99
Cory Doctorow muss enorm an Lebenserfahrung und sozialer Einsicht dazugewonnen haben, seit ich zum letzten Mal etwas von ihm gelesen habe. Denn um es gleich vorwegzunehmen: »For the Win« hat mich wirklich umgehauen.
Von der Aufmachung und Inhaltsangabe her kommuniziert Heyne dieses Werk als Jugendbuch – was ich schade finde, denn aus diesem Grund hätte ich es beinahe nicht gelesen. Auch beginnt es mit einem Thema, mit dem nicht jeder automatisch vertraut ist: Online-Games. Gleich zu Anfang beobachten wir den siebzehnjährigen Chinesen Matthew, wie er in einer schäbigen Wohnung an der Südküste der Volksrepublik mehrere Partien eines Internetspiels mit dem illustren Namen Svartalfheim Warriors gleichzeitig spielt, in dem es darum geht, gegen virtuelle Trolle und Monster zu kämpfen, um ebenso virtuelle Schätze und Bonuspunkte zu sammeln. Seine Person, sein Umfeld, seine Sprache werden genauso nerdig geschildert, wie ich es von Doctorow gewohnt bin – also eher kein Stil, derechte Literaturgefühle aufkommen lässt. Dachte ich. Doch ab Seite 12 erfährt der Roman eine düstere Wendung (und damit auch die Sprache und die »Message« des Buchs): Drei Männer dringen in Matthews Wohnung ein, bedrohen und misshandeln
ihn – nicht weil wir uns hier in einem jugendlichen Abenteuerroman befänden und es um irgendeine dunkle Verschwörung oder Mächte des Bösen ginge. Sondern aus viel irdischeren Gründen: Matthew spielt im Auftrag eines kleinkriminellen Internetvermieters und hat seine Abgaben nicht gezahlt – mehr noch: Er sammelt in den Online-Games immer häufiger eigennützig Bonuspunkte.
Wer sich – wie ich – bisher nur wenig oder gar nicht mit der zunehmend komplexeren Welt der Internetspiele beschäftigt hat, wird sich nun fragen: Wovon zum Teufel spricht Doctorow hier? Wieso gibt es wegen simpler Spiele Morddrohungen? Und dann beginnt für uns das Lernen, im besten Stil jener Science Fiction, die nur einen Tag von der Gegenwart entfernt ist und Entwicklungen – wirklich ernste Entwicklungen – aufzeigt, die man noch nicht kannte.
Wir springen nach Los Angeles, wo sich ein weiterer Jugendlicher namens
Weitere Kostenlose Bücher