Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
(Hrsg.)
WERDEN WIR EWIG LEBEN? GESPRÄCHE ÜBER DIE ZUKUNFT VON MENSCH UND TECHNOLOGIE
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010 · 308 Seiten · €15, –
Am Ende des jeweiligen Interviews fragen die beiden Herausgeber jeden Gesprächspartner, ob er vierhundert Jahre alt werden möchte. Von insgesamt vierzehn Personen, die in dem Buch zu Wort kommen, spricht sich die Hälfte ganz klar für diese höhere Lebensspanne aus (wenn man den Transhumanisten Ray Kurzweil hinzuzählt, dessen Interview den Ausgangspunkt für das Buchprojekt bildete und der nicht explizit danach gefragt wurde). Drei der Interviewten machen keine genauen Angaben und vier lehnen die Option einer Lebensverlängerung ebenso kategorisch ab. Manche der Befürworter stellen allerdings Bedingungen: So wollen sie die vierhundert Jahre nur zusammen mit vertrauten Menschen, nicht in Armut oder nur mit der jederzeit gegebenen Möglichkeit zum Selbstmord verbringen. Zu dieser Gruppe zählen Namen wie der Chemie-Nobelpreisträger Jean-Marie Lehn, der Hirnforscher Wolf Singer und der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel. Abgelehnt haben das »Angebot« beispielsweise der Robotik-Forscher Luc Steels und der Ethik-Philosoph Bert Gordijn.
Vierhundert Jahre wären noch keine Unsterblichkeit, aber nichtsdestotrotz eine enorme Verlängerung der heutigen Lebenserwartung. James M. Vaupel, Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock und ebenfalls Befürworter der 400-Jahr-Perspektive, fasst den empirischen Stand der Dinge zusammen, was die Alterung der Bevölkerung betrifft. Kinder, die heute geboren werden, könnten durchschnittlich hundert Jahre alt werden. Um 1700 habe die Lebenserwartung bei fünfunddreißig Jahren gelegen. Noch um 1840 sei eine bloß zehnjährige Erhöhung dieser Zahl bei schwedischen Frauen zu beobachten gewesen. Seitdem sei die Lebenserwartung kontinuierlich um zweieinhalb Jahre pro Jahrzehnt angestiegen, eine Entwicklung, die vor allem im Absinken der Kindersterblichkeit durch Fortschritte der öffentlichen Gesundheitsversorgung und bei Arzneistoffen begründet sei. Hinzu kämen in letzter Zeit neue Erfolge bei
der Behandlung älterer Menschen. »Diese Entdeckung ist wirklich fundamental. Die Gerontologen waren schockiert, da sie annahmen, dass nichts die Mortalität im Alter verhindern könne, dass der Alterstod angeboren, ja natürlich sei.« Zur Erinnerung: Die nachweislich älteste Person der bisherigen Menschheitsgeschichte, die Französin Jeanne Calment, ist 122 geworden. Zugleich habe sich für viele die Spanne des gesunden Lebens verlängert: »25 % der Unterschiede von Lebensspannen von Erwachsenen können auf angeborene, genetische Faktoren zurückgeführt werden und 75 % auf andere, nicht angeborene Einflüsse: das Umfeld, in dem man sich als Kind und später als Erwachsener bewegt, Verhaltensfaktoren, Ernährung, Behandlung oder Vermeidung von Krankheiten, Pech oder einfach Glück und viele weitere Dinge, die keinen genetischen Ursprung haben. Der genetische Anteil wächst mit der Höhe des Alters, doch er bleibt unter 50 %.« Natürlich könnten neue Epidemien entstehen oder andere Katastrophen auf die Menschheit zukommen, die ein langes Leben für viele verhindern, aber auf der anderen Seite könnte eine weitere Beschleunigung der medizinischen Entwicklung stattfinden. Es sei jedoch schwierig, vorauszusehen, an welcher Stelle weitere Durchbrüche gelingen könnten, ob in der Genetik, der regenerativen Medizin, der Nanotechnologie oder anderswo. Das ewige Leben, wie es Kurzweil und andere anstreben, sei aber unrealistisch, die Herausforderungen seien schon groß genug. Eine Gesellschaft mit vielen Hundertjährigen werde eine neue Mischung von Arbeit, Bildung und Freizeit eingehen: »Man kann sich also ständig neu erfinden, und man muss es auch, wenn man vierhundert Jahre lebt.«
Peter Gruss ist Biochemiker und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft und bewertet das Zusammenspiel aller molekularen Prozesse und Netzwerke aus Sicht der Systembiologie. »Wir kennen alle möglichen Gene und detaillierte molekulare Netzwerke, die an der Entstehung von Krebs beteiligt sind. Mithilfe allein dieses Wissens können zukünftig im Rahmen der Systembiologie computergestützt sehr viel stichhaltigere und damit wirkungsvollere Therapien entwickelt werden.« Sobald ein 1000-$-Genom zur Verfügung stehe, sei die Grundlage für eine personalisierte Medizin gelegt. Ob es eine genetische »Obergrenze« für das
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