Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
annähernd selbst zu verstehen.« Demgegenüber steht die Technikbegeisterung der anderen Projektmitarbeiter, die das Problem rein technisch oder geschäftsmäßig angehen, ohne sich um die philosophischen Implikationen Gedanken zu machen. Die Umstände des Forschungsvorhabens werden dem Ich-Erzähler – stellvertretend für den Leser – bei diversen Tischgesprächen ausführlich erklärt, Ergebnisse der Gehirnforschung oder der KI-Diskussion werden seitenlang ausgebreitet. Muss man das Denken detailliert in seinen Funktionen verstehen, um es nachbauen zu können? Inwieweit wird KIND eigenständig Probleme lösen können?
Der Höhepunkt des Buches ist ein Gespräch bei einem wichtigen Geschäftsessen in Singapur. Ein konfuzianischer Philosoph verwickelt das anwesende Projektteam, zu dem auch Kuklinsky
und der Ich-Erzähler gehören, in einen Disput: Soll man einem künstlichen Wesen einen Platz in der Gemeinschaft geben? Simuliert dieses seine Gedanken und Empfindungen nicht lediglich? Während der Projektmanager diesen Fragen rhetorisch nicht gewachsen ist und sich in technischen Ausführungen verheddert, ist es Kuklinsky, der den großen Bogen schlägt, um die Gastgeber zu beschwichtigen. Das Gehirn erzeuge ein inneres Körperbild und operiere mit inneren Repräsentationen der Außenwelt, sodass die Menschen aus neurophysiologischer Sicht betrachtet schon »simulierte Wesen« seien. »Die Evolution arbeitet wie eine Maschine und hat trotzdem den Menschen und seine merkwürdigen Ideale hervorgebracht. Warum soll es nicht ein zweites Mal geschehen, dass Geist, der durch Rechenregeln nicht erklärbar ist, aufgrund von Rechenregeln entsteht?« Allein diese fünfzehn Seiten sind schon die Lektüre des Buches wert.
Dem Ich-Erzähler ist nicht nur die technische, sondern auch die Marketing-Seite des Projekts fremd. Je weiter KIND voranschreitet und je mehr Dimensionen der Entwicklung sich ihm erschließen, desto kritischer wird seine Einstellung. Nachdem Kuklinsky an Krebs gestorben ist, steht er nicht mehr unter dessen »Schutz«. KIND soll zu einer Art Lifestyle-Produkt gemacht werden. Der Erzähler ist jedoch davon überzeugt, dass die KI etwas anderes lernen wird, als ihre Hersteller sich überhaupt vorstellen können. Durch seine Geschichten will er ihr einen utopischen Keim einpflanzen. Sein letzter Text erzählt eine historische Heiligengeschichte, die Biografie eines jungen Mannes, der unberührt von den gültigen gesellschaftlichen Werten nach der »ewigen Freude« sucht. Die dritte Erzählung schildert auf sachlich-nüchterne Weise die Weltwahrnehmung eines Mannes, der unter einer schizophrenen Psychose leidet und dessen Ich-Identität sich phasenweise auflöst. Die anderen beiden Texte beschäftigen sich mit dem sozialen Rollenverhalten von Menschen, mit Machtverhältnissen in Gruppen oder mit der Ohnmacht des Außenseiters in einem fremden Land. Dass Hirth die beiden Textsorten – die Rahmenhandlung und die Geschichten des Ich-Erzählers – parallel anlegt, macht den besonderen Reiz des Buches aus.
Matthias Hirth ist ursprünglich Theaterschauspieler und -regisseur. Sein Buch enthält Szenen, die man sich in ihrer Dichte und psychologischen Spannung gut auf der Bühne vorstellen könnte. Neben der Fähigkeit, erstklassige Dialoge zu verfassen, besitzt Hirth aber auch ein Gespür für nuancierte Beschreibungen von Charakteren und Orten. Dem Leser wird ein Panoptikum des Lebens geboten, das sich um Fragen nach Evolution, Tod, Identität und vieles mehr dreht, gespiegelt in einem (bisher unmöglichen) Sinn-Kontext. »Ich wollte ein Buch schreiben, in dem alles drin steht«, meint der Autor dazu. »Und das hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet.« Der Titel des Buches ist allerdings unglücklich gewählt, da missverständlich: »Angenehm« rührt vom englischen »kind« her, das zugleich Name des Forschungsprojekts ist. In Verbund mit dem Untertitel assoziiert man eher einen Schelmenroman um eine KI, die einige Verirrungen der menschlichen Kultur kennenlernt. Aber davon ist der Roman weit entfernt, schon allein weil in dem Buch gar keine autonom agierende KI vorkommt. »KIND. Ein Bildungsroman« wäre vielleicht zu bevorzugen gewesen (da es auch als »Kind« des menschlichen Geistes gelesen werden könnte). Dennoch stellt Hirths Werk ein gelungenes Experiment dar: Science Fiction im besten Sinne, aber kein expliziter Genre-Roman.
Wolfgang Neuhaus
TOBIAS HÜLSWITT/ROMAN BRINZANIK
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