Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
zitiert werden, die Oase Lebaudypolis zum »Herz der Finsternis« wird, die Expedition vielsagend zu den Klängen des Doors-Klassikers »The End« aufbricht und die Mittelmeerpassage mittschiffs von einem Grammophon mit Caruso-Arien begleitet wird. Und die unvergleichlichen Stimmen von Irm Hermann und Margit Carstensen lassen streckenweise gar einen Hauch von Fassbinder vorüberwehen.
Am erstaunlichsten aber ist die Herkunft des Hörspieltitels: »Tod den Ohnmächtigen bis zur Revolution« heißt einer von vier 1995 veröffentlichten Essays, die der Berliner Literaturwissenschaftler Michael Farin 2009 in seinem Belleville-Verlag publiziert hat. Sie stammen aus der Feder von keinem Geringeren als Muammar al-Gaddafi höchstpersönlich, der, was nur wenig bekannt ist, neben zahlreichen politischen Texten auch einiges an Prosa verfasst hat, darunter »Der Selbstmord des Astronauten«, das in diesem Hörspiel wörtlich zitiert wird.
Die Diktatur der Kunst!: Jonathan Meese, Bernhard Schütz, Henning Nass
Aber zurück ins Tripolitanien des Jahres 2032. Die Oase Lebaudypolis erweist sich nach der Ankunft als Hexenkessel aus Sabotage, unterirdischen Gängen, gefährlichen Sackgassen und luftdichten Garagen – Chaos, Gefahr, Realitätsverlust, »gefallene Kunst«: Das Grauen! Ist Lebaudy, der »Kurtz der Wüste«, verrückt geworden? Aus der Nähe betrachtet ist er keineswegs die bloße Verkörperung des Bösen, sondern eine durchaus ambivalente Figur. »Alle Politiker müssen zugunsten der Kunst abdanken«, ist sein Credo. »Propheten sind Scharlatane … Lasst die Gottheiten sausen«, brüllt er den Massen zu, »erniedrigt euch nicht selbst!« Solche Parolen sind natürlich nicht hinnehmbar. »Die Demokratie ist total tot«, sind seine letzten Worte, als ihn das gleiche Schicksal ereilt wie 21 Jahre zuvor seinen geistigen Vater.
Die Kolonialisten haben gesiegt. Aber darüber sollte man nicht leichtfertig frohlocken; schon zu Beginn lässt das Hörspiel keinen Zweifel: »Die Tyrannei eines Einzelnen ist die schändlichste aller
Tyranneien, doch der Despot ist ein Einzelner, den eine Gemeinschaft beseitigen kann. Die Tyrannei der Massen dagegen ist die brutalste Art der Tyrannei … Dreh nicht am Rad der Demokratie! Denn was passiert, wenn du am Rad der Demokratie drehst? Nichts.«
Zweifellos muss man schon ein Künstler sein, um ein solches Amalgam zusammenzuschmelzen. Ihre Sicht auf das Zeitalter der Massen und seine Repräsentanten demonstrieren die Autoren wie nebenbei, wenn sie den Expeditionsteilnehmern Nullsätze und Leerfloskeln in den Mund legen und sie nach ihrer Ankunft in Tripolitanien mit PS und Hubraum ihrer Geländefahrzeuge prahlen lassen. Nein, Jonathan Meese, Henning Nass und Bernhard Schütz sind jedenfalls keine »lupenreinen« Demokraten. Sie huldigen der »Diktatur der Kunst«!
Horst G. Tröster
GERHARD MEISTER
DIE LEUCHTEN IN DER NACHT
Regie: Reto Ott · Schweizer Radio DRS 2010
Was wäre, wenn … es in einem Atomkraftwerk in der Schweiz zu einem GAU kommen würde? Diese Frage erscheint uns heute, ein Jahr nach der realen Atomkatastrophe in Fukushima, nahezu despektierlich. Doch genau das ist Thema des Hörspiels Die leuchten in der Nacht . Der Autor Gerhard Meister beschreibt darin die Zeit nach einer Atomkatastrophe in der Schweiz, nach der Flucht des Kapitals und nachdem zwei Warlords das Land unter sich aufgeteilt haben. Und er beschreibt diese Zeit aus der Sicht von vier Personen, die ihren ganz eigenwilligen Umgang mit der Katastrophe haben. Entstanden ist diese Geschichte jedoch nicht nach , sondern vor Fukushima, schon 2009, und zwar als Theaterstück – nach einer Reise des Autors und des Regisseurs (Nils Torpus) nach Tschernobyl und der Besichtigung der Geisterstadt Prypjat, einer Arbeiterstadt, die 1970 mit dem Kernkraftwerk in Tschernobyl gegründet worden war und 1986 nach dem GAU von den knapp 50 000 Bewohnern evakuiert werden musste.
Die Uraufführung dieses Theaterstücks fand am 17. März 2010 in Aarau in der Deutschschweiz statt, in einem Kanton, in dem
drei der fünf Schweizer AKWs in Betrieb sind. Fast genau ein Jahr später, am 11. März 2011, ereignete sich das folgenschwere Erdbeben mit Tsunami und Zerstörung mehrerer Atommeiler in Japan.
In dem Hörspiel Die leuchten in der Nacht , das auf dem gleichnamigen Theaterstück basiert, ereignet sich der GAU in einem Atomkraftwerk in der Deutschschweiz. Diese wird dadurch zu einer weitgehend unbewohnten Region,
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