Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
seinen legendären Mitternachtskino-Filmerfolg Pink Flamingos , den »Film, den Variety ›sicherlich einen der abscheulichsten, dümmsten und abstoßendsten Filme, die je gemacht wurden‹ genannt hatte.« (ebd.) Waters ist, soweit man das aus seinen öffentlichen Auftritten, Interviews und großartigen Büchern schließen kann, einer der reizendsten Menschen der Welt und ausweislich einer der kompetentesten Praktiker und Theoretiker dessen, was schlechter Geschmack, Provokation, Tabubruch, Schockwirkung, gezielt hässliche Kunst etc. genannt wird. Besonders im mehr oder weniger gehobenen Feuilleton scheint interessanterweise Übereinkunft darüber zu bestehen, dass die Zeit derartiger brachialer Überwältigungsstrategien schon lange abgelaufen ist; Beispiele liefern die »nichtigen Provokatiönchen«, zu welchen Publizistin Thea Dorn einst die »Feuchtgebiete« von Charlotte Roche herabsetzte, oder die vulgärironisch lächelnde, bemühte und sichtlich angestrengte Herablassung, mit der Konservative regelmäßig die aktionskünstlerischen Attacken Christoph Schlingensiefs zu kontern versuchten. Man tut unberührt, winkt gähnend ab und legt großen Wert darauf, mit habituierter Sind-doch-alte-Hüte-Kühle weit über dem Schmuddelkram zu stehen. Das alles stimmt aber nicht. Erstens ist es gelogen, und zweitens ist es falsch. Demonstrative Immunität gegen drastische Kunst ist ein Distinktionsgestus liberaler, bürgerlicher und ein bisschen zu sehr vom eigenen und zeitgemäßen Ironieverständnis eingenommener Kulturbetriebsteilnehmer, die Apathie mit Sachlichkeit verwechseln – und doch nur zum gehobenen Teil des Milieus gehören, dessen niedere Angehörige immer mal wieder Regietheaterexzesse oder Ähnliches begeifern. Wer ausdrücklich beteuern muss, sich von aber auch gar nichts vor den schlauen Kopf stoßen zu lassen, ist in den allermeisten Fällen bereits auf die Spitze der Palme gebracht (frei formuliert nach Heinz Peter Schwerfel, dem Autor des Werks »Kunstskandale: Über Tabu und Skandal, Verdammung und Verehrung zeitgenössischer Kunst«, Köln 2000). Es gibt sie nach wie vor, die Schocks, Tabus und Provokationen, und sie haben sich kaum verändert. Man muss nicht lange nachdenken, um mindestens fünf oder sechs Themen beziehungsweise Motive aufzählen zu können, die in filmischer, literarischer oder sonstwie künstlerischer Form die Grenzen des breitgesellschaftlich Tolerablen überschreiten. Es ist überaus fraglich, ob ein (immerhin fast vierzig Jahre alter) Film wie William Friedkins Der Exorzist von 1973 samt einer Zwölfjährigen, die sich ein Kruzifix zwischen die Beine rammt und dabei blasphemische Obszönitäten knurrt, in unserer vermeintlich abgebrühten unmittelbaren Gegenwart produziert werden könnte. Wäre der Roman »American Psycho« von Bret Easton Ellis nicht 1991, sondern 2011 erschienen, hätte man darum höchstwahrscheinlich ein ebenso großes Gewese veranstaltet wie damals. Und nur die allerabgestorbensten Individuen würden leugnen, dass die Lektüre der Schriften des Marquis de Sade heute genauso unangenehm ist wie vor 200 Jahren. Was man allerdings von jemandem wie John Waters lernen kann, ist nicht die Leugnung provozierender und schockierender Effekte von Kunstwerken, sondern ein anderer Umgang mit solchen Effekten – und damit deren höheres, »richtigeres« Verständnis. Künstlerisch Drastisches verroht nicht, sondern sensibilisiert; wer guten Geschmack entwickeln will, muss um schlechten wissen; Schocks und Provokationen rütteln durch, beleben einen und brechen tradierte Darstellungs- und Wahrnehmungsmuster auf; Lachen hilft immer, sowohl den Künstlern als auch den Rezipienten;und Filme, Bücher und Bilder beißen, riechen, bedrohen, morden oder beleidigen nicht. Man vergisst das allzu leicht, immer noch. Tom Six hat es mit The Human Centipede 2: Full Sequence , dem zweiten Teil seiner kumulativen Tausendfüßler-Trilogie (die abschließende Final Sequence ist bereits in Arbeit), geschafft, einen im ausgeführten Sinn geschmacklosen, provokanten, schockierenden und tabubrechenden Film zu drehen, den man durchaus in die Tradition solcher Waters-Frühwerke wie Multiple Maniacs (1970) oder Desperate Living (1977) stellen kann. Jenseits der wirklich mal lustigen, originellen und im Brecht’schen Sinn verfremdungseffektiven Horrorfilmsequelprämisse – körperlich wie geistig derangierter Londoner Parkhauswachmann ist von dem Horrorfilm The Human Centipede: First
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