Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
einem in den Weg stellt? Will man hacken oder stehlen? Oder will man eine Kombination aus allem? Deus Ex: Human Revolution erlaubt dem Spieler diese Vielfalt. Es lässt ihn selbst bestimmen, wie er durch die Level zieht.
Die menschliche Revolution – Adam Jensen wird aufgemotzt
Eines aber lässt es den Spieler nicht bestimmen: Ob Jensen augmentiert ist oder nicht. Er ist es, hat zumindest eine Grundausstattung. Ob er weitere Implantate erhält, liegt in der Hand des Spielers. Schnell merkt man: Ohne Augmentationen ist das Spiel sehr schwer. Wer Verzicht übt, hat keine Unterstützung beim Hacken von Computern oder Türschlössern, keine Zielhilfe und keine Möglichkeit, sich kurz unsichtbar zu machen. Und diese kleinen Hilfsmittel machen einen großen Teil des Charmes von Deus Ex: Human Revolution aus. Letztlich ist aber genau das eine gute Idee: Radikal Dinge abzulehnen, die man nicht kennt, ist nicht die Sache von Mary DeMarle. Der Spieler soll erst mit Augmentierungen experimentieren, bevor er sich eine Meinung bildet. Sie selbst verweigert eine eindeutige Antwort, lässt die Geschichte offen und
den Spieler zum Schluss zwischen vier verschiedenen Enden wählen. Jedes eine Richtungsentscheidung und jedes mit Pro und Kontra versehen. Jede Überzeugung hat ihre Berechtigung. Es gilt, einen Ausgleich zwischen den Überzeugungen zu finden, andere Meinungen gelten zu lassen. Dass ein Spiel sich den Luxus leistet, uneindeutig und doch hochpolitisch zu sein, ist ein Glücksfall. Auch für die Entwickler, denn es heißt, dass man viele Gedanken, viele eigene Ideen hineinstecken kann.
DeMarle möchte, dass der Spieler sich Gedanken macht und vielleicht, sehr vielleicht zu einer Meinung kommt. Sie glaubt, dass Spiele mehr als pure Unterhaltung sein können, verknüpft dies aber mit der Einsicht, dass man jegliche Philosophie gut verstecken muss, da sie nur einen Bruchteil der Spieler interessieren wird. Ein erhobener Zeigefinger verschreckt die Zielgruppe. Es ist eine Einstellung, die im Kontext von Videospielen nicht unbedingt neu ist, aber selten. Nur wenige Spiele haben sich an Ähnlichem versucht. BioShock mit seiner Kritik am Objektivismus von Ayn Rand kann man dazuzählen, Half-Life 2 mit seiner Totalitarismus-Allegorie und auch den direkten Vorfahren von Human Revolution : das erste Deus Ex . Eines der ersten Spiele, die nicht nur von Freiheit erzählen wollten, sondern sie auch spielerisch umsetzten.
Deus Ex ist die Erfindung eines der wichtigsten Spieleentwickler der letzten Jahre: Warren Spector. Und um über Deus Ex: Human Revolution reden zu können, muss man kurz über Warren Spector sprechen – auch wenn er gar nicht an der Entwicklung des neuen Spiels beteiligt war. »Wir alle sind massiv von dem beeinflusst, was Warren Spector gemacht hat«, sagt Jean-François Dugas, der sich kurz JF nennt, der Designer von Human Revolution . »Von seinen Ideen, seiner Vorstellung von spielerischer Freiheit. Spector ist ein großartiger Spieleentwickler.« Er sagt das nicht, weil er muss, sondern weil er es glaubt. Wie viele andere auch. Nicht umsonst wird Spector mit Auszeichnungen überhäuft.
Wer Warren Spector trifft, wird erstaunt sein. Er ist das Gegenteil dessen, was man gemeinhin von einem Spieleentwickler erwartet. Mit sorgfältig getrimmtem Bart, gebügelten Hemden und vorzugsweise im Pullunder gekleidet, kann man sich ihn am ehesten
als Professor an einer Universität an der amerikanischen Ostküste vorstellen. Boston oder Brooklyn, das sollte seine Heimat sein. Doch Spector wohnt in Austin, der Hauptstadt von Texas. Er spielt gerne mit Klischees. Inmitten benzinschluckender SUVs fährt er ein Hybrid-Auto, um seinen Gast zum nächsten Texas-Barbecue-Restaurant zu verfrachten, wo er Teller mit Fleisch volllädt. Er philosophiert über Vorzüge und Nachteile verschiedener Marinaden und springt ohne Warnung zur Spieltheorie. Spector ist ein vieldeutiger Mensch, und diese Vieldeutigkeit hat er zum Prinzip seiner Spiele gemacht. Geholfen hat ihm dabei eine Jugend als Außenseiter, Comic-Nerd und Pen&Paper-Rollenspieler – oder wie er es ausdrückt: »Als jüdischer Junge, der in Manhattan aufwächst, braucht man Phantasie, um zu überleben.« Er hat Szenarien für andere Rollenspieler geschrieben, hat als Filmkritiker gearbeitet und schließlich bei Origin angefangen, einem der bekanntesten Spielestudios der Neunzigerjahre. Gegründet von Richard Garriot, der sich selbst gerne »Lord British« nennt, ist
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