Heyne - Das Science Fiction Jahr 2012
zu phantastisch erscheint ihnen, was sie gesehen haben. Fortan ist der kleine Junge besessen vom Meer und allem, was damit zusammenhängt, während sein Opa schwört, das »Ding« einzufangen, und wenn es das Letzte sei, was er im Leben tue. Amber tauft das Wesen aus dem Meer auf den Namen Mandy – nach dem Schmachtfetzen von Barry Manilow, der zurzeit ständig im Radio gespielt wird.
Die Handlung springt elf Jahre weiter, und natürlich ist Amber als sechzehnjähriger Teenager hoffnungslos verknallt in Taylor, für den sie jedoch nichts weiter als eine Art Schwesternersatz ist. Im Radio seines alten Autos hören sie andauernd den Hit des Jahres 1986 – »Amanda« von Boston, was wiederum gut zu Mandy passt –, und Amber bemüht sich nach Kräften, Taylor nicht merken zu lassen, was sie tatsächlich für ihn empfindet. Da gerät Mandy ins Netz, die ebenfalls gealterte Meerjungfrau und Taylors
Lebensretterin. Und sie erweist sich weder als Hirngespinst noch als übersinnliches, jenseitiges Wesen, sondern einfach nur als bislang unentdeckte maritime Spezies, wie es in den weitgehend unerforschten Weltmeeren noch so manche geben mag (nur keine Yrr). Doch wie Amber zerknirscht erkennen muss, besitzt Mandy in Taylors Augen durchaus etwas Überirdisches; ihre eigenen Chancen, von dem jungen Mann als weibliches Wesen wahrgenommen zu werden, sinken infolge der realen Existenz der Meerjungfrau ins Bodenlose.
Der Fischtrawler, dem der Fang des Meerwesens gelungen ist, gehört natürlich Taylors Vater, der prompt damit beginnt, Strategien zu ersinnen, wie man aus dem Zufallsfund Kapital schlagen könnte, einschließlich einer weltweit übertragenen Meerjungfrauen-Präsentations-TV-Show.
So weit, so gut – es scheint alles auf den Drehbuchentwurf für einen Walt-Disney-Familienfilm hinauszulaufen. Free Mandy oder so könnte der heißen.
Nun ist Ben Bennett, der bislang mit gefühligen Liebesgeschichten leicht phantastischen Einschlags aufgefallen ist (»Solange es Wunder gibt«, »Das Lächeln des Himmels«), etwas zu erfahren, um in derart süßliche Gewässer abzudriften. Er steuert seinen Roman hart an den Klippen des Kitsches vorbei und hinein in ein ebenso unvermeidliches wie trauriges Ende. Für die Meerjungfrau gibt es keine Rettung – jedenfalls nicht so, wie man es von einem Disney-Streifen erwarten würde.
Nach dem üblichen Handlungs-Twist, in dem E.T., äh, Mandy um ein Haar stirbt und im letzten Moment gerettet wird, muss die Meerjungfrau schnellstens ins Meer zurückgeschafft werden. Vorher aber kommt es in der Show zu einem Vorfall, mit dem niemand gerechnet hat. Zu einem Vorfall zwischen Mandy und Taylor. Am Ende gewinnt Taylor zwar seine Nixe, in die er vernarrt ist, seit sie ihm mit fünf Jahren das Leben gerettet hat, aber alle anderen Menschen – einschließlich Amber – verlieren Taylor. Sie müssen mit ansehen, wie ihn die Infektion, die ihm von der Meerjungfrau beigebracht worden ist, nach und nach in ein Meeresgeschöpf verwandelt, bis er am Ende kaum noch Luft atmen kann und zu Lande im atmosphärischen Sauerstoff zu ertrinken droht (ein altehrwürdiges
SF-Motiv übrigens, man vergleiche Alexander Beljajews »Amphibienmensch« von 1928 und insbesondere die Verfilmung aus dem Jahr 1962).
Der Kunstgriff, die ganze Geschichte aus der Sicht eines pubertierenden Teenagers zu erzählen, bewahrt den kleinen Roman vor dem Peinlichkeitsverdacht, könnte aber ebenso dazu verleiten, ihn als Jugendroman abzutun. Um ein »richtiger« SF-Roman zu sein, fehlt ihm die Vortäuschung logisch nachvollziehbarer Erklärungen; kein Doktor hat irgendeine Erklärung für Mandys Existenz oder für Taylors Verwandlung, während die Technik der TV-Show durchaus glaubhaft herübergebracht wird. Um als Fantasy durchzugehen, ist der Roman wiederum viel zu bodenständig gehalten, viel zu zaubereifrei und viel zu wenig mythengläubig, wenn es um die alten Erzählungen über Meerjungfrauen geht.
Doch »Seestern« fühlt sich zwischen allen Stühlen pudelwohl, und warum nach Genre-Schubladen suchen, wenn ein Buch wunderbar als Märchen für Erwachsene funktioniert?
Karsten Kruschel
MYRA ÇAKAN
DREIMAL PROXIMA CENTAURI UND ZURÜCK
Roman · Edition Phantasia, Bellheim 2011 · 208 Seiten · € 13,90
Myra Çakans bislang fünfter Roman beruht auf ihrem 2006 gesendeten Hörspiel »Schieß mich zum Mars, Liebling«, zu dem Horst G. Tröster im SCIENCE FICTION JAHR 2007 folgende nicht gerade schmeichelhafte Worte
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