Heyne Galaxy 01
»Ja, die Situation ist ernst, sehr ernst …«
Niemand widersprach ihm.
Ungehindert konnte er zum eigentlichen Thema kommen.
»Einst besiedelten wir die Galaxis. Unsere Schiffe stießen weit in den Raum und zu den fernsten Sternen vor. Überall gründeten wir Kolonien. Sie blühten auf und schufen große Zivilisationen. Unsere Söhne und Töchter waren es, die den toten Planeten der Milchstraße Leben gaben. Die Erde aber, Mutter Erde, wurde eine Großmutter, eine alte, schwache Großmutter, die jeder vergaß. Unsere Kolonien hingegen – sie werden stärker, mächtiger und breiten sich immer mehr aus. Es sind unsere Kinder, die sie schufen. Es sind also unsere Kinder, die uns heute helfen sollten. Wir wissen, daß es ihnen gutgeht, draußen, unter den Sternen. Wenn sie uns helfen …«
Marcel hörte kaum noch zu. Er kannte das. Natürlich, der Gedanke war naheliegend, aber wie sollte er verwirklicht werden? Wie sollten die fernen Kolonisten davon unterrichtet werden, daß die Erde starb, jene Erde, der sie alle ihre Existenz verdankten? Und wenn man es konnte, was sollte getan werden? Auch Dions Vorschlag taugte nichts. Er war gut gemeint, aber unrealistisch.
Dann sprach Selba. Ganz kurz nur erwähnte sie Naro, den Präsidenten des Rates, der es nicht für notwendig erachtet hatte, bei der Versammlung zu erscheinen, dann kritisierte sie Dions Vorschläge und verwarf sie mit unwiderleglichen Argumenten.
»Die nächste Kolonie ist, wie wir wissen, zweiundzwanzig Lichtjahre entfernt. Wenn Dion hingehen will, benötigt er dafür vierundvierzig Jahre. Ich schlage vor, daß er gleich aufbricht.«
Dions Alter war unbestimmt, aber es war offensichtlich, daß er keine vier Jahrzehnte mehr leben konnte.
Selba war schlank und gut aussehend, wenn sie auch kein Teenager mehr war. Ihre Qualitäten lagen nicht in ihrer Schönheit, sondern in ihrer Zielstrebigkeit. Selba war reif geworden. Sie machte sich nichts mehr vor. Auch den anderen nicht.
»Wenn wir überhaupt zu einer Kolonie gehen, dann um dort zu leben, aber nicht, um sie anzubetteln. Die Frauen sind es, die den Schlüssel der Zukunft einer Rasse in der Hand halten. Wir Frauen der Erde sind steril und dekadent geworden – und nicht nur wir Frauen. Die Gründe dafür? Ganz einfach: wir haben den Willen zum Leben verloren. Das ist alles. Wenn jene Frauen, die Kinder gebären könnten, auch Kinder haben wollten, wäre ein Bevölkerungszuwachs gesichert. Wir würden nicht aussterben. Die Frage also lautet: warum wollen unsere Frauen keine Kinder? Weil sie Angst vor der Geburt haben und weil sie die Arbeit und Mühe des Aufziehens scheuen. Wenn diese beiden Dinge überwunden werden, haben wir das Problem zur Hälfte gelöst. In unserer Zivilisation ist das nicht möglich, weil jeder Anreiz fehlt. Was wir brauchen ist eine rivalisierende Zivilisation. Wo finden wir sie? Hier nicht, nur in den Kolonien.«
Aha, dachte Marcel, das also ist ihre Lösung. In Amerika, in der Nähe von Philadelphia, sollte es noch ein Kolonistenschiff geben, fast fertig. Es würde nicht schwer sein, es zu vollenden. Dann konnte man die Erdbevölkerung damit evakuieren. So behauptete wenigstens Selba.
Marcel erhob sich. Genau wie Selba kritisierte auch er den Plan seines Vorredners.
»Wissen Sie, was es bedeutet, ein Raumschiff zu konstruieren oder auch nur fertigzustellen, Selba?« Selba gab zu, es nicht zu wissen. Sie meinte, das sei auch nicht so wichtig. Man würde es schon schaffen. Marcel schüttelte den Kopf. »Ich will Ihnen verraten, daß ein Raumschiff so ziemlich die komplizierteste aller technischen Errungenschaften ist, die es je gegeben hat. Es ist einfacher, mit dem Bau eines solchen Schiffes zu beginnen, als ihn zu vollenden. Davon abgesehen, wissen Sie denn, für wieviel Passagiere so ein Schiff vorgesehen ist?«
»Nun, ich glaube schon, daß eine große Zahl …«
»Ja, eine große Zahl, allerdings. Zwei- oder dreihundert, dazu die Mannschaft. Wir aber müßten sechzigtausend evakuieren.« Er schwieg und wartete auf eine Entgegnung. Es kam keine. Er fuhr fort: »Es wird besser sein, wenn wir die Kolonien aus dem Spiel lassen. Sie haben uns längst vergessen. Es müßte ein Zufall sein, wenn eins ihrer Schiffe die Erde findet und auf ihr landet. Warum sollte es auch? Das letzte Raumschiff landete vor einhundertfünfzig Jahren und nahm die restlichen Abenteurer mit. Eines Tages vielleicht, wenn eine der Kolonien mit dem Aufbau fertig geworden ist und nichts mehr zu tun
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