Heyne Galaxy 11
betrachtete den Berg, den er eben überwunden hatte. »Wie schnell war ich am Kippüber?« fragte er dann nachdenklich und erhielt die Antwort, daß man eine Geschwindigkeit von etwa hundertundsiebzig Kilometern in der Stunde gemessen hätte. Er nickte und traf dann die Feststellung, die seitdem zu einer Art Leitwort für die Männer der Sippe geworden war:
»Es IST möglich!«
Er verfolgte den Kurs der ersten Schlitten, die in die gewaltige Wand hinaufrasten, und spürte erneut die Angst, die ihn gepackt hielt. Während des Rennen war er in seinem Schlitten gefangen. Wenn er die Kurve richtig nahm, war alles in Ordnung. Wenn er dagegen den Kippüber nicht richtig ansteuerte …
… die brüderliche Gemeinschaft, die Gespräche bis tief in die Nacht …
»Weißt du noch, wie Otto Domagk die Krüppelkurve nahm, damals während des Schneesturms?«
»Ja, und als er dann ausgegraben wurde! Wann war das, nach zwei Stunden etwa, ja? Er sah aus, als ob er schliefe… «
»Und äußerlich völlig unverletzt, wißt ihr noch?«
… wißt ihr noch? … wißt ihr noch …?
Er folgte seinem Vordermann in geringem Abstand und fühlte sich von der Wand in die Höhe gehoben und übergekippt. Ein Schatten fiel über ihn, einen Sekundenbruchteil lang schien die Wand auf dem Kopf zu stehen – der Schnee und das Tal –, dann kam der Sturz und das lauter werdende Kreischen des Windes und der Kufen, und sein Schlitten richtete sich wieder auf, und er lag genau auf Kurs direkt hinter dem anderen Schlitten. In diesem Augenblick scherte jemand aus, und ein anderer Fahrer zog seine Klappenbremse …
Die heftige Luftbewegung brachte die nachfolgenden Schlitten ins Schleudern. Raketen wurden abgefeuert. Ein Schlitten drehte sich, überrollte im Zeitlupentempo zwei andere und explodierte an der Wand der Auslaufkurve des Kippüber.
Er zog den Nothebel – doch es geschah nichts!
Er wußte, daß er tot war. Zwei Schlitten wirbelten durch die Luft, ein weiterer zerschellte unmittelbar vor ihm. Die Teile glitten über die Strecke. Er brauchte nur in eines der Bruchstücke hineinzufahren … Aber plötzlich lag die Kurve hinter ihm. Er begann wieder zu atmen. Er hatte Zahnbrocken im Mund und den Geschmack von Blut. Vorsichtig steuerte er um ein langsam kreisendes Wrackteil…
… wie viele waren jetzt tot? Er selbst und wer noch? Aber wenn er den Tod nicht fürchtete, was dann? Was hatte er tief in seinem Innern abgekapselt, was hielt er von sich fern, obwohl er wußte, daß es existierte? Was? Und scheute er jetzt nicht mehr davor zurück? Was war es?
Der Schlitten erzitterte. Er fuhr schlecht, er handhabte die Kufen ohne rechtes Gefühl. Er schaffte den Stiefel und die Krüppelkurve nur mit Mühe, doch nicht der Schlitten war außer Kontrolle, sondern er selbst. Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Und mit über hundertundsiebzig Stundenkilometern näherte er sich dem Höllentor.
Dieser letzte und gefährlichste Teil der Stuka-Bahn wurde von einer harmlosen, großzügig angelegten Linkskurve eingeleitet, die abrupt in eine längere Sturzbahn überging. Diese Bahn wechselte nach Überwindung einer Talsohle in eine Hangfahrt, um übergangslos zu einer gefährlichen Haarnadelkurve anzusetzen, die die Bahn geradewegs ins Tal zurückführte und in einer rechtwinkligen Linkskurve und einer langen Geraden auslief. Hier waren mehr Fahrer gestorben als auf der übrigen Strecke. Hier befanden sich die größten Tribünen, hier standen drei Geistliche und mehrere Operationssäle zur Verfügung. Hier …
Hier würde er die letzte Formalität seines Todes vollziehen …
Er nahm die erste Linkskurve zu tief und zu schnell und geriet augenblicklich ins Gleiten. Als er automatisch gegensteuerte, indem er die Kufen nach links stellte, raste der Schlitten die Wand hinauf, die dort oben abrupt in den leeren, blauen Himmel überging. Innerlich völlig ruhig wartete er fast neugierig darauf, ob er sich noch rechtzeitig wieder gerade stellen oder ob das Unvermeidliche passieren würde. Der Schlitten stellte sich wieder in Fahrtrichtung, rutschte jedoch seitwärts weiter, auf den oberen Kurvenrand zu. Er verstellte erneut die Kufen, doch plötzlich wurde sein Schlitten herumgerissen. Augenblicklich riß er auch das Steuer herum, war jedoch nicht schnell genug. Sein Fahrzeug bäumte sich auf, hob sich auf die linken Kufen. Er hatte die Gewalt über den Schlitten völlig verloren. Aber er gab nicht auf…
… und genau das war es: Man gab niemals
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