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zweiten Whiskey. Valčík beobachtet vom Hügel aus das Durcheinander auf der Kreuzung, die von folgenden Fahrzeugen blockiert wird: ein Mercedes, zwei Straßenbahnen, zwei Fahrräder. Opálka wird da auch schon irgendwo sein, doch ich kann ihn nicht genau lokalisieren. Roosevelt sendet amerikanische Flieger nach England, um die Piloten der Royal Air Force zu unterstützen. Lindbergh möchte den Orden, der ihm 1938 von Göring verliehen wurde, nicht zurückgeben. De Gaulle kämpft bei den Alliierten für die Legitimation des Freien Frankreichs. Von Mansteins Armee besetzt Sewastopol. Das Afrikakorps hat am Tag zuvor den Angriff auf Bir Hakeim gestartet. Bousquet plant die Razzia vom Wintervelodrom. In Belgien sind die Juden von heute an verpflichtet, einen gelben Stern zu tragen. In Griechenland treffen die ersten französischen Widerstandskämpfer ein. Zweihundertsechzig Flugzeuge der Luftwaffe sind unterwegs, um einen Seekonvoi der Alliierten abzufangen, der versucht, um Norwegen herum über das Nordmeer Richtung Sowjetunion zu gelangen. Nach sechs Monaten täglicher Bombardements verkünden die Deutschen, die Invasion Maltas auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Die SS-Uniformjacke landet sanft auf der elektrischen Oberleitung der Tram, als hätte man sie dort zum Trocknen aufgehängt. So sieht’s aus. Doch Gabčik hat sich immer noch nicht aus seiner Erstarrung gelöst. Mehr noch als die Explosion ist das tragische Klacken seiner Sten für ihn eine mentale Ohrfeige. Wie im Traum sieht er die beiden Deutschen aus dem Auto steigen und sich in einem augenscheinlich perfekt einstudierten Bewegungsablauf gegenseitig Deckung geben. In Überkreuzstellung dreht sich Klein zu Kubiš, während Heydrich allein mit der Waffe in der Hand auf Gabčik zutaumelt. Heydrich, der gefährlichste Mann des Dritten Reiches, der Henker von Prag, der Schlächter, die blonde Bestie, die Ziege, der Jude Süss, der Mann mit dem eisernen Herzen, die grauenerregendste Kreatur, die dem Fegefeuer der Hölle jemals entstiegen ist, der grausamste Mann, der jemals aus dem Uterus einer Frau hervorgegangen ist, seine Zielperson, steht ihm gegenüber, schwankend und bewaffnet. Mit einem Schlag löst sich Gabčik aus der Erstarrung und findet die notwendige Geistesgegenwart, um die Situation blitzschnell und frei von jeglicher mythologischen Verklärung einzuschätzen. Er findet zu seinem schnellen und treffsicheren Entscheidungsvermögen zurück, das ihm ermöglicht, genau das Richtige zu tun: Er wirft seine Sten weg und nimmt die Beine in die Hand. Die ersten Schüsse fallen. Heydrich zielt auf ihn. Heydrich, der Henker, der Schlächter, die blonde Bestie etc. Doch der Reichsprotektor, der sonst immer Höchstleistungen in allen Disziplinen vollbringt, ist definitiv nicht in Hochform. Er macht einfach alles falsch, jedenfalls in diesem Augenblick. Gabčik kann hinter einem Telegraphenmasten in Deckung gehen, der ziemlich breit gewesen sein muss, weil er beschließt, dort zu bleiben. Er weiß schließlich nicht, wann Heydrich wieder zu Kräften kommt und vernünftig zielen kann. In der Zwischenzeit hört er den Kugelhagel donnern. Auf der anderen Seite wischt sich Kubiš das Blut aus dem Gesicht, das ihm die Sicht verdeckt, und erblickt die gigantische Statur Kleins, der sich ihm nähert. War es ein wahnwitziger Einfall oder eine klarsichtige Eingebung? Jedenfalls fällt ihm sein Fahrrad wieder ein. Er greift in den Lenker und schwingt sich auf den Sattel. Jeder, der schon einmal Fahrrad gefahren ist, weiß, dass ein Radfahrer während der ersten zehn, fünfzehn, meinetwegen auch zwanzig Meter von einem Mann zu Fuß schnell einzuholen ist, und es dauert, bis er ihm unaufhaltsam davonfahren kann. Darüber scheint sich Kubiš angesichts der Entscheidung, die sein Gehirn für ihn trifft, im Klaren zu sein. Neunundneunzig Prozent aller Menschen wären in einer solchen Situation (in der es gilt, so schnell wie möglich die Flucht vor einem bewaffneten Nazi zu ergreifen, dem es nicht an Gründen mangelt, einen umzubringen) reflexartig in die entgegengesetzte Richtung ihres Verfolgers gefahren. Kubiš hingegen beschließt, in Richtung der Tram zu radeln, aus der die ersten nach Luft ringenden Fahrgäste herausdrängen. Dabei beschreibt er, in Bezug auf Klein, einen Winkel von knapp neunzig Grad. Ich mag es eigentlich nicht, mich in den Kopf eines anderen Menschen zu versetzen, doch ich glaube, Kubiš’ dahinterstehendes Kalkül erkennen zu können, ein
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