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Aufregung ist auf dem Höhepunkt, die Effizienz so gut wie null. Hätten Gabčik und Kubiš am Bahnhof Wilson (mittlerweile umbenannt) bis zu zwei Stunden nach dem Attentat einen Zug nehmen wollen, um die Stadt zu verlassen, hätten sie dies unbehelligt tun können.
Gabčik hatte zwar einen schlechten Start, jetzt aber weniger Probleme: Er braucht lediglich einen Regenmantel, weil auf seinem Steckbrief stehen wird, dass er keinen mehr trägt, weil er seinen vor dem Mercedes hat liegenlassen. Und er ist körperlich unversehrt: Er hat weder äußere noch innere körperliche Verletzungen. Im Laufschritt erreicht er das Viertel Žižkov. Dort schöpft er wieder Atem und neue Kräfte, kauft einen Strauß Veilchen und klingelt bei Herrn Zelenka, Lehrkraft und Mitglied von «Jindra», der Widerstandsbewegung von Sokol. Er überreicht Frau Zelenka die Veilchen, leiht sich einen Regenmantel und macht sich wieder auf den Weg. Vielleicht leiht er sich den Mantel aber auch von Familie Svatoš, deren Aktentasche er sich bereits geborgt und ebenfalls in der Kurve zurückgelassen hat. Doch sie wohnen weiter weg, mitten in der Stadt, in der Nähe des Wenzelsplatzes; über diesen Punkt gibt es abweichende Zeugenaussagen, und ich weiß nicht, auf welche ich mich verlassen kann. Wie dem auch sei, danach begibt er sich zur Wohnung der Familie Fafek, wo ihn ein heißes Bad erwartet und er seine junge Verlobte, Libena, wiedersieht. Was sie dort tun und zueinander sagen, weiß ich nicht. Doch wie wir wissen, war Libena über alles informiert. Sie muss überglücklich gewesen sein, ihren Verlobten lebendig wiederzusehen.
Kubiš wäscht sich das Gesicht, Frau Novák reibt ihn mit Jodtinktur ein, und die Nachbarin, eine gute Seele, leiht ihm ein Hemd ihres Mannes, damit er sich umziehen kann, ein weißes Hemd mit blauen Streifen. Vervollständigt wird seine Verkleidung durch eine Eisenbahneruniform, eine Leihgabe von Herrn Novák. In seinem Arbeiteraufzug erregt er mit seinem lädierten Gesicht weniger Aufmerksamkeit: Es ist allgemein bekannt, dass Arbeiter häufiger Unfälle erleben als Herren im Anzug. Ein Problem bleibt noch: Jemand muss das Fahrrad abholen, das er vor Bata abgestellt hat. Es ist zu nah bei der Kurve, die Polizei wird es schnell finden. Da trifft es sich gut, dass die kleine Jindriska, das Nesthäkchen der Familie Novák, sicherlich gerade aus der Schule zurück, freudig hereingestürmt kommt. Sie hat Hunger; in Tschechien wird früh gegessen. Während ihre Mutter etwas zum Essen für sie vorbereitet, betraut sie ihre Tochter mit einer Mission. «Ein Bekannter hat sein Fahrrad vor dem Schuhgeschäft Bata stehenlassen. Hol es dort ab und bring es in den Hof. Und wenn dich jemand fragt, wem das Fahrrad gehört, antworte ihm nicht – mein Freund hatte einen Unfall und könnte Ärger bekommen …» Das Mädchen läuft los, und seine Mutter ruft ihm hinterher: «Und versuch nicht, damit zu fahren, das kannst du nicht! Und pass auf die Autos auf!»
Eine Viertelstunde später kehrt Jindriska mit dem Fahrrad zurück. Eine Dame hat ihr Fragen gestellt, doch gemäß ihrer Anweisung hat sie nichts gesagt. Mission erfüllt. Kubiš kann sich einigermaßen beruhigt auf den Weg machen. Wobei beruhigt sehr relativ ist, wenn man weiß, dass man in den nächsten Stunden, Minuten einer der meistgesuchten Männer im ganzen Reich sein wird.
Valčíks Situation dürfte, solange seine Beteiligung noch nicht eindeutig geklärt wurde, etwas weniger kritisch sein. Doch mit einer Schussverletzung durch Prag im Ausnahmezustand zu hinken, sorgt natürlich auch nicht gerade für eine gelassene Gemütslage. Valčík kann sich bei einem Kollegen und Freund von Alois Moravec verstecken, wie jener ein Eisenbahnangestellter, Widerstandskämpfer und Schutzherr der Fallschirmspringer. Auch er ist mit einer Frau verheiratet, die sich ganz in die Dienste derer stellt, die gegen die Besatzer kämpfen. Sie lässt Valčík herein, einen sehr blassen Valčík. Sie kennt ihn gut, weil sie ihn bereits mehrmals hereingelassen, untergebracht und versteckt hat, doch sie nennt ihn Mirek, weil sie seine wirkliche Identität nicht kennt. Aber da das Gerücht bereits in der ganzen Stadt kursiert, fragt sie ihn sofort: «Weißt du Bescheid, Mirek? Es gab ein Attentat auf Heydrich.» Valčík blickt fragend auf: «Ist er tot?» «Noch nicht», sagt sie, und Valčík senkt den Kopf wieder. Doch sie kommt nicht dagegen an, ihm die Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge
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