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doch in seiner Machtgier nimmt er es trotzdem nicht auf die leichte Schulter. Trotzdem, wenn es nach mir geht: Kleinkram; doch ich besitze zugegebenermaßen weder Heydrichs Sachkunde noch Erfahrung, um das beurteilen zu können. Auf jeden Fall hat die RSHA-Hydra genug Köpfe, um Heydrich beschäftigt zu halten. Er ist darüber hinaus zum Delegieren gezwungen. Die Leitung der sieben Abteilungen des RSHA vertraut er Mitarbeitern an, die er vor allem aufgrund ihrer Kompetenzen und nicht nach politischen Kriterien ausgewählt hat – ein Umstand, der in dem Irrenhaus von Nazi-Apparat selten genug ist, um Erwähnung zu finden. Heinrich Müller, dem Heydrich die Gestapo anvertraut hat und der sich dermaßen mit seiner Aufgabe identifiziert, dass er kurze Zeit später nur noch «Gestapo-Müller» genannt wird, ist beispielsweise ein ehemaliger Christdemokrat. Diese Tatsache hält ihn aber nicht davon ab, sich den Ruf als einer der unerbittlichsten Vollstrecker des Regimes zu erarbeiten. Die anderen Abteilungen des RSHA werden brillanten Intellektuellen übertragen, jungen Leuten wie Schellenberg (Sicherheitsdienst Ausland) und Ohlendorf (Sicherheitsdienst Inland) oder versierten Akademikern wie Six (Presseamt und Gegnerforschung), was einen starken Kontrast zu der Kohorte von Analphabeten, weltfremden Spinnern und Geisteskranken bildet, die an der Parteispitze sitzen.
Ein Sonderreferat der Gestapo befasst sich mit der Judenfrage. Die Tatsache, dass es sich nur um eine Unterabteilung handelt, steht in keinerlei Verhältnis zur tatsächlichen Bedeutung dieses Referats, doch mit sensiblen Themen geht man vorsichtshalber immer diskret um. Heydrich weiß bereits, wer sein «Judenbeauftragter» sein soll: Adolf Eichmann, der kleine österreichische Hauptsturmführer, der so gute Arbeit leistet, ist wie geschaffen dafür. Momentan widmet er sich einer wirklich ausgefallenen Arbeit: dem «Projekt Madagaskar». Man erwägt, die Insel als «Judenreservat» zu nutzen. Doch an dem Plan muss noch gearbeitet werden. Zunächst gilt es, England zu besiegen, denn sonst ist der Transport der Juden auf dem Seeweg unmöglich. Danach wird man weitersehen.
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Hitler hat die Invasion Englands beschlossen. Doch um an der englischen Küste landen zu können, muss Deutschland zuerst die Lufthoheit über England gewinnen. Entgegen den Versprechen des gutgenährten Görings kreisen immer noch Spitfires und Hurricanes der Royal Air Force über dem Ärmelkanal. Tag um Tag, Nacht um Nacht wehren die heldenhaften englischen Piloten die Angriffe der deutschen Bomber und Jagdflugzeuge ab. Für den 11. September 1940 ist die Operation «Seelöwe» geplant, die jedoch zunächst auf den 14., dann auf den 17. verschoben wird. Doch am 17. September berichtet die Seekriegsleitung: «Die feindliche Luftwaffe ist noch keinesfalls geschlagen. Ihre Tätigkeit nimmt im Gegenteil zu. Die Gesamtwetterlage lässt nicht die Erwartung auf eine Schönwetterperiode zu.» Daraufhin beschließt der Führer, «Seelöwe» auf unbestimmte Zeit zu vertagen.
Doch noch am selben Tag gibt Heydrich, der von Göring damit beauftragt worden war, direkt zu Beginn der Invasion Repressions- und Säuberungsmaßnahmen zu organisieren, seinem Mitarbeiter Franz Alfred Six eine neue Anweisung. Der Standartenführer und ehemalige Dozent für «Politische Geistes- und Zeitgeschichte» an der Universität Berlin arbeitet jetzt für Heydrichs SD. Heydrich hat ihn dazu auserkoren, sich in London niederzulassen und seine neuaufgestellten Einsatzgruppen zu befehligen: sechs kleine Einheiten, die in London, Bristol, Birmingham, Liverpool, Manchester und Edinburgh stationiert werden sollen, oder in Glasgow, sollte die Brücke über den Firth of Forth zwischenzeitlich zerstört worden sein. Heydrich erklärt ihm, seine Aufgabe werde darin bestehen, mit den erforderlichen Mitteln alle oppositionellen Organisationen, Institutionen und sonstigen Gruppen zu bekämpfen. Konkret wird die Arbeit dieser Einsatzgruppen die gleiche sein wie in Polen und später in Russland: Es handelt sich immer um «mobile Tötungseinheiten», die mit allen verfügbaren Mitteln Menschen auslöschen sollen.
Doch in diesem Fall ist die Sache etwas komplizierter, denn es gibt eine Sonderfahndungsliste GB , die Heydrich Six übergibt. Auf der Liste werden rund 2300 Persönlichkeiten genannt, die so schnell wie möglich aufgefunden, festgenommen und der Gestapo übergeben werden sollen. Ganz oben auf der Liste steht, wen
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