Hier hat s mir schon immer gefallen
Catlins Vater als »ewige Wahrheiten« bezeichnete, die sie insgeheim für möglicherweise vergänglicheWahrheiten hielt. Und dennoch hatte Catlin ein ganz leises ungutes Gefühl. Nie hätte sie damit gerechnet, einem Menschen wie Marc zu begegnen. Wo war der Haken an der Sache?
Inzwischen lebten sie seit vier Jahren zusammen. Catlin gab Familiengeschichten zum Besten - über ihre schlafwandelnde Großmutter, den Alkoholikercousin, der von einem Riesenrad gefallen war, das allmähliche Abwenden ihres Vaters von der Familie, den großzügigen Humor ihrer Mutter. Sie erzählte ihm von ihrem einzigen vorherigen Freund, einem Herumtreiber, der Meteorologie studiert hatte und jetzt im Irak war. Die Affäre sei nichts Ernstes gewesen, sagte sie; sie hatten nur zweimal miteinander geschlafen, bevor sie sich beiderseitige wachsende Abneigung eingestehen mussten. Marc schwieg über seine Vergangenheit, und Catlin stellte ihm keine Fragen. Sein feines schwarzes Haar, länger, als hierzulande gern gesehen, stand ihm mephistophelisch um den Kopf, wenn der Wind hineinblies, und in seinem Gesicht saßen eine gebogene iberische Nase und engstehende Augen mit schwarzer Iris und buschigen Brauen. In Widerspruch zu seinem südländisch hübschen Gesicht war er untersetzt, mit dicken Armen und kleinen Händen. Er sah ein bisschen bösartig aus, wie ein alter Künstler, dessen Auge sich durch zeitgenössisches Geschmiere beleidigt fühlt.
Catlin war ein rundliches Baby mit Pfannkuchengesicht gewesen. Als Erwachsene hatte sie noch immer ein rundes Gesicht mit fleischigen Wangen und mit Aknenarben, die ihr etwas Hartgesottenes, Abgebrühtes verliehen. Das Heuen hatte ihre Muskeln gekräftigt, und sie war ein paar Zentimeter größer und fünf Kilo schwerer als Marc. Ihre Füße waren so groß wie die eines Mannes und hatten noch nie in Schuhen mit hohen Absätzen gesteckt. Besuche im Schönheitssalon hatten ihr glattes blondes Haar in platinblonde Wellen verwandelt, die nicht zu ihrer groben Haut passten. Sie kultivierte ein Aussehen mit blauen Kulleraugen und halbgeöffnetem Schmollmund, das von Filmstars der dreißiger Jahre in Mode gebracht worden war. Dass sie seiner Mutter ähnlich sah, konnte sie nicht wissen.
Gegen Ende der Waldbrandsaison verließen sie Idaho und zogen nach Lander in Wyoming, wo Marc Arbeit bei einem Veranstalter von Extremklettertouren angeboten worden war. Wohnungen waren Mangelware, und zuletzt landeten sie in einem graubraunen Trailer, der Catlins Meinung nach Farbe benötigte. Sie strich die Wände kirschrot, purpurn und orange. In einem Trödelladen fand sie einen alten runden Tisch, den sie kobaltblau sprühte. Ein Fernseher aus den sechziger Jahren, den sie in dem Schuppen hinter dem Trailer entdeckte, wurde zu einem von mehreren Schreinen für ihre selbsterfundenen Götter und Fetische, darunter der Schrein des Nichtabstürzens oder der Schrein des Abenteuers.
»Sehr orientalisch«, sagte Marc in ausdruckslosem Ton. Er dachte an Tibet. Nach einigen Monaten kündigte er in der Kletterschule; er sagte, so viele unerträgliche Angeber halte er nicht aus, für die Karriereleiter sei er nicht geschaffen, Klettern als Geschäft sei nichts für ihn. Mit Ed Glide, dem einzigen Menschen, mit dem er sich angefreundet hatte, kletterte er zum Vergnügen. Er kehrte zu der Tätigkeit zurück, die er vor der Arbeit bei der Feuerwehr ausgeübt hatte - freiberufliches Aktualisieren von Informationen über afrikanische Länder für Reiseführer unter Berücksichtigung rezenter Aufstände, Veränderungen des Musik- und Kleidungsgeschmacks, der Launen von Diktatoren. Als Kind hatte er in Elfenbeinküste und Zaire gelebt und als Erwachsener in vier oder fünf Mittelmeerländern, soweit Catlin ihn verstanden hatte. Wenn sie ihn über diese Zeit befragte, erzählte er von Kochbananen für Fufu und andere Gerichte. Sie taufte den Schrein des Nichtabstürzens in Schrein der Reiseinformationen um.
Ihr Vermieter war Biff, ein langer, kettenrauchender alter Cowboy mit Schweißflecken an einem Hut, der den Mauern von Jericho nicht unähnlich sah. Biff glaubte, das Geheimnis des Reichtums entdeckt zu haben, das darin bestand, den Trailer seiner verstorbenen Exfrau zu vermieten. Catlins neue Farben sagten ihm nicht zu.
»Wie zum Teufel soll ich da neue Mieter finden? Sieht aus wie im Karneval.« Er war so dünn, dass er Jeans in Kindergröße kaufen musste, die ihm zu kurz waren. Die Hochwasserhosen steckte er in seine
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