High Heels im Hühnerstall
seines. Übrigens bin ich hier die Einzige, die einen deutlich jüngeren Freund hat, und ich will nicht, dass du mir mein Terrain streitig machst.«
»Dazu wird es nicht kommen«, sagte Cal. »Der Kleine war stockbetrunken, die Chancen stehen also gut, dass er sich nicht einmal erinnert, was passiert ist, und selbst wenn, wird es ihm so peinlich sein, dass er mit einer alten Schachtel wie ihr herumgeknutscht hat, und sicher nicht wollen, dass es jemand erfährt.«
»Entschuldige mal, eine ältere Frau zu küssen, macht wahrscheinlich großen Eindruck«, setzte Sophie sich zur Wehr.
»So ist es jedenfalls bei meinem James«, erklärte Carmen und nickte.
»Das hängt von der älteren Frau ab, meine Liebe«, stellte Cal fest. »Jedenfalls ist das Küssen des Sohnes deines Verlobten im Allgemeinen, selbst wenn es vielleicht das Schlimmste ist, was du je getan hast, nicht derart wichtig. Es ändert nichts, abgesehen davon, an welcher Stelle du auf der Idiotenliste rangierst. Geh einfach in ein paar Stunden zu Louis hinüber und tu so, als wäre nichts passiert.«
»Als wäre Seth gar nicht hier gewesen?«, fragte Sophie.
»Das wäre wahrscheinlich das Beste«, pflichtete Carmen ihnen bei. »Halte das Ganze für einen Albtraum … oder vielleicht für einen Traum … Übrigens, wenn wir schon davon sprechen, wie war der Kuss? Du hast ausgesehen, als würdest du ihn wirklich genießen.«
»Wie oft muss ich es noch sagen! Ich stand unter Schock, deshalb bin ich nicht gleich zurückgewichen.« Sophies Stimme wurde so laut, dass ihre Freunde sie ermahnen mussten, leiser zu sein. »Und überhaupt, man soll seinen Verlobten nicht anlügen. Wenn ich ihn anlügen wollte, dann hätte ich Louis erst gar nichts von Seth gesagt.«
»Dir liegt doch noch etwas an deiner Verlobung mit ihm, oder?«, fragte Cal.
»Selbstverständlich! Ich liebe ihn.«
»Dann geh nachher rüber und tu so, als wäre nichts passiert, erzähl ihm nichts davon und entscheide von Fall zu Fall.« Cal zog eine Augenbraue hoch. »Und versuche, dabei nicht noch mit anderen Verwandten herumzuknutschen.«
Sophie stand vor Louis’ Haustür, genau wie vor sechs Monaten, als sie beschlossen hatte, aus London hierher zu kommen und es mit ihm zu versuchen.
Damals hatte sie gezögert, weil sie unsicher gewesen war, wie er sie aufnehmen würde, denn es war nicht klar, was er für sie empfand. Weil inzwischen so viel passiert war und sie nun den Ring an ihrem Finger trug, war es seltsam, dass sie sich jetzt, sechs Monate später, wieder genauso fühlte.
Sie holte Luft, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.
Es war früh, kaum fünf Uhr, im Haus war es dunkel und still.
Sophie hatte versucht, länger in der Pension zu bleiben und so zu tun, als wäre dieser Morgen ein ganz normaler Samstagvormittag und als wäre in der letzten Nacht nichts Bedauerliches passiert, aber sie schaffte es nicht. Nachdem sie mehr als eine Stunde lang vergeblich einzuschlafen versucht hatte und sich lange hin- und hergewälzt und in der Dunkelheit an die Decke gestarrt hatte, war sie aufgestanden und hatte in der winzigen Dusche in ihrem angrenzenden Bad gestanden, die Stirn gegen die Fliesen gedrückt, während sie warmes Wasser über ihre Schultern und den Rücken laufen ließ. Als auch das sie nicht beruhigte, versuchte sie, ein Buch zu lesen und eine Zeit lang fernzusehen, obwohl die Programmauswahl in den frühen Morgenstunden sehr mager war, doch nichts konnte sie beruhigen; sie fühlte sich rastlos und besorgt und wollte Louis unbedingt sehen. Deshalb hatte sie Cal geweckt und ihm gesagt, dass sie jetzt hinüberging.
»Du hättest mich nicht zu wecken brauchen«, beklagte er sich und schob den Kopf unters Kissen.
»Nur für den Fall, dass du es mir ausreden willst«, flüsterte Sophie dem Kissen zu.
»Okay, geh nicht; es ist viel zu früh, es wird seltsam wirken, und überhaupt, ich dachte, du willst bis nach der Hochzeit nicht dort sein, wenn die Mädchen aufwachen – oder aus irgendeinem anderen fadenscheinigen Vorwand, um sicherzustellen, dass Louis erst dann herausfindet, dass du schnarchst, wenn du den Ring am Finger hast. Bleib hier und halt den Mund.«
»Nein, ich kann nicht; ich muss gehen«, erwiderte Sophie. »Ich muss ihn einfach sehen. Alles läuft schief. Wenn ich warte, bis die Sonne aufgeht, dann wird alles, was heute Nacht passiert ist, wie ein Traum erscheinen, es wird irreal wirken, dabei ist es real. Ich muss jetzt bei ihm sein. Ich
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