High Heels und Gummistiefel
herab, so dass es glücklicherweise kein Missverständnis gab.
16
Daisy
»Sind Sie müde?«
»Nein, alles okay«, erwiderte Daisy. »Aber mir schläft allmählich der Arm ein.«
Raoul furchte die Stirn. »Einschlafen? Was heißt Einschlafen. Ah, ja – des fourmis! Entschuldigung. Sie sind sehr geduldig. Wenn Sie nur noch einen Augenblick so bleiben könnten. Es ist fast fertig, ich schwöre es!«
»Natürlich!«
»Et voilä! Ich glaube, ich habe Sie getroffen. Wollen Sie es sehen?«
»Ja, bitte!«, antwortete Daisy und trat von dem weißen, würfelförmigen Block herunter, auf dem sie gestanden hatte. Sie rieb sich die Arme und ging zu Raoul hinüber, der ihr einen großen Zeichenblock hinhielt.
»Meine Güte!«, stieß sie hervor.
»Ach, kommen Sie. Jetzt machen Sie aber mal’nen Punkt! Sagen Sie jetzt bitte nicht, dass es Ihnen nicht gefällt«, beschwor Raoul sie und blickte zu ihr hoch.
»Doch, doch, es gefällt mir! Wirklich. Es ist sehr – sehr – schmeichelhaft.«
»Das sind Sie, von Kopf bis Fuß.«
»Na ja«, lachte Daisy, »das bin ich mit größeren Augen, viel längeren Beinen und, äh, noch ein bisschen mehr von allem möglichem anderem.«
Kritisch wanderte Raouls Blick von seinem Modell zu der Zeichnung und zurück, dann schüttelte er den Kopf. »Vielleicht übertreibe
ich ja ein ganz kleines bisschen, aber ich finde, das sind Sie. So, wie Sie aussehen.«
»Oh, na schön, wenn Sie es sagen...«
Ein wenig verlegen machte Daisy sich daran, eine Runde durch das Atelier zu drehen und die Bilder an den Wänden zu betrachten. Es gab ein paar Ausnahmen, doch im Großen und Ganzen schien Raoul sich sehr viel mehr für Frauen als für Männer zu interessieren. Vorhin, in der Küche, war Daisy aufgefallen, dass der Kühlschrank mit Bildern von amerikanischen Pin-ups mit Schmollmund aus den 50er Jahren zugepflastert war. An den Wänden des Ateliers ließ sich ein ähnliches Thema ausmachen.
»Die da, das ist Barbarella«, sagte Raoul, als Daisy vor einer spärlich bekleideten Blondine mit verwirrtem Gesichtsausdruck innehielt, die kopfüber in einem Raumschiff schwebte. »Verstehen Sie?«
»Ich glaube schon.« Daisy erinnerte sich an einen Leitartikel im »Beauty«-Teil der Vogue vor ein paar Jahren, in dem es um »voluminöse Schlafzimmerfrisuren« gegangen war. »Da gab es doch mal so einen fantastischen Film, nicht wahr?«
»Mit Jane Fonda, die in dem Film absolut umwerfend ausgesehen hat. Aber davor gab es eine wirklich tolle bande dessinée. Ein totaler Klassiker.«
Als bandes dessinées (abgekürzt B.D.s), das wusste Daisy mittlerweile, bezeichneten die Franzosen Comichefte. Mit dem Zeichnen von bandes dessinées verdiente Raoul sich seinen Lebensunterhalt, hatte er Daisy im Laufe ihres ersten Treffens in einer Bar in Les Halles erzählt. Er hatte fünfzehn Hefte auf dem Buckel und eine neue Story in Arbeit, jene, die er im Bus erwähnt hatte. Daisys Vorstellung davon, um was es sich bei einer bande dessinée wirklich handelte, war ein wenig nebulös.
»Ist das im Großen und Ganzen so etwas Ähnliches wie, na ja, Batman- oder Spiderman-Comics?«, hatte sie sich behutsam erkundigt.
Raoul hatte herzlich gelacht. »Spiderman! Ha, ha, ha – hören Sie auf, Sie machen mich fertig!« Er hatte einen Schluck von seinem mexikanischen Bier genommen und dann gesagt: »Die B. D., das ist eine Kunstform. In Frankreich bezeichnen wir sie als die neunte Kunst.«
Während die verdatterte Daisy in aller Stille versuchte, auszuknobeln, welches die anderen acht waren und ob, was am wichtigsten war, Mode auch dazu zählte, fuhr Raoul fort: »Wir Franzosen sind eine sehr literarische Nation, wissen Sie? Also erzählt eine B. D. eine Geschichte, genau wie ein Roman, genau wie ein großartiger Film. Das ist mehr, als wenn alles ›Peng‹ und ›Zisch‹ macht. Die Story ist entscheidend. Manche Typen machen nur die Illustrationen und überlassen die Story einem Schriftsteller. Aber ich nicht. Ich bin so was wie ein totaler, irrer Perfektionist, also schreibe ich alle meine Handlungen und alle meine Dialoge selbst.«
»Und wie sieht Ihre nächste Geschichte aus?«
»Oh, da geht’s um ein Mädchen.« Raoul lächelte sie über den Tisch hinweg warm an. »In meinen Geschichten geht es immer um ein Mädchen.«
»Immer um dasselbe Mädchen?«
»Nein, nein, um verschiedene. Ich habe jede Menge Heldinnen.«
»Und was passiert mit dieser, mit Ihrer neuen Heldin?«
»Sie erlebt ein paar coole
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