High Heels und Gummistiefel
Also, eigentlich hatte Raoul recht, was die B.D.s betraf, dachte Daisy, während sie umblätterte, das hier war richtig klasse, so spannend wie jeder Film.
Jetzt hatte sich die Szene gewandelt, die Handlung spielte in den frühen Morgenstunden am Hafen, und Caroline – die bei aller Fairness keinen sonderlich glaubwürdigen Jungen abgab – stach auf einem Schiff in See, mit Kurs auf Louisiana. Dazu gehörte auch, unter Deck das Quartier mit einer Menge Männern zu teilen,
die sie als eine Art verwaistes Maskottchen in ihr Herz geschlossen hatten und samt und sonders ihre betörenden Rundungen nicht zu bemerken schienen. Mittlerweile um einiges entspannter, blätterte Daisy weiter. Oje, es sah aus, als wäre Caroline in die Kajüte des Kapitäns beordert worden. Besagter Kapitän war durchaus attraktiv, stellte sie nebenbei fest. Jetzt würde er wahrscheinlich herausfinden, dass Caroline unter Vorspiegelung falscher Tatsachen reiste, und dann würde sie im nächsten Hafen von Bord gehen müssen oder so etwas. Obwohl, Augenblick mal, es hatte den Anschein, als wollte der Kapitän ihr deswegen irgendwie... eine Lektion erteilen. Das schien Caroline allerdings nicht allzu viel auszumachen. Tatsächlich sah es so aus, als ob sie... Oh, wow!
Das war es, ermahnte Daisy sich, das war der große Test. Unbekümmert und nonchalant, genau so würde sie auch weiterhin sein. Mit ein paar gewagten Zeichnungen und Sprechblasen kam sie ja wohl zurecht. Nichts, worüber man sich echauffieren müsste. Sie blätterte um, wobei sie sich innerlich ein wenig wappnete. Nun ja, Raoul war wirklich erstaunlich begabt darin, weibliche Akte darzustellen. Oh, und männliche Akte auch, wie sich herausstellte. Alles war wunderschön gezeichnet und irgendwie sehr real. Rasch blätterte Daisy die nächsten paar Seiten um, und sehr bald wurde deutlich, dass Raoul, genau wie viele seiner Landsleute, nicht das Geringste von political correctness zu wissen schien. Caroline geriet in alle möglichen Auseinandersetzungen. Wieder musste sie fliehen, diesmal vor dem Kapitän, der ihr ein bisschen zu besitzergreifend war. Dann, nach ein paar Abenteuern in Louisiana – zu denen auf unterschiedliche Weise ein Plantagenbesitzer, sein jüngerer Bruder, ein entflohener Sklave, zwei erstaunlich gut gebaute Soldaten und ein kurzes Gastspiel in einem Bordell in New Orleans gehörten -, stach sie abermals in See, diesmal als Piratin, und befehligte eine Crew, die ohne Ausnahme aus sehr ansehnlichen (und sehr
lüsternen) Jungs zu bestehen schien. Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Ende.
Nun, das war auf jeden Fall etwas anderes als die Abenteuer von Tim und Struppi, bei denen es, wenn Daisy sich recht erinnerte, nicht besonders um die anschauliche Darstellung sexueller Lust gegangen war.
Raoul kam mit zwei Gläsern Cola wieder herein. »Und? Gefällt’s Ihnen?«, erkundigte er sich und ließ sich neben ihr nieder.
»Oh, die sind wirklich irre. Ganz toll.«
»Welcher gefällt Ihnen am besten?«
»Ehrlich gesagt, ich hatte nur Zeit, mir das hier anzuschauen«, erwiderte Daisy und legte La Filibustière sehr gefasst neben sich aufs Sofa. Und ganz ehrlich, dachte sie bei sich, ich hatte ja keine Ahnung, dass du dermaßen pervers bist. Laut fragte sie: »Also, wovon lassen Sie sich inspirieren? Zu Ihren Geschichten?«
»Ja, na ja, das kommt ganz drauf an«, meinte Raoul, zündete sich eine Gauloise ohne Filter an und pflückte einen Tabakkrümel von seiner Lippe. »Ich mache gern Geschichten mit großen Kostümen, wie das hier«, erläuterte er und nahm ein anderes Heft mit dem Titel La Sultane zur Hand, auf dessen Cover ein atemberaubend schönes Mädchen abgebildet war, das anscheinend den Tanz der sieben Schleier aufführte.
»Kommt da zufällig ein Harem drin vor?«, wollte Daisy wissen.
»Ja, genau«, antwortete Raoul verblüfft. »Aber ich dachte, Sie hätten es nicht gelesen?«
»War nur geraten. Und Ihr nächstes Heft, das, das Sie gerade fertig machen? Sie haben etwas davon gesagt, dass es da um ein Mädchen geht, das surreale Abenteuer erlebt.«
»Ja, also eigentlich ist es so etwas wie ein... psychedelisches Märchen. Sie kennen doch Lewis Carroll, oder? Also, die Story basiert auf Alice au pays des merveilles.«
»Alice im Wunderland? Wirklich?«
»Ja, aber ganz anders. Meine Alice ist viel, viel älter – achtzehn oder neunzehn -, und das Ganze spielt in den Sechzigern.«
Daisy dachte einen Augenblick lang darüber nach.
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