High Heels und Gummistiefel
Besten, einen Song von Enrique Iglesias, auf den dann etwas folgte, was sich als Grundeinstellung des lebensfrohen Raoul herausstellte – irrwitzig fröhliche brasilianische Musik.
Nachdem sie Seite an Seite auf roten Barhockern am Kunststoff-Tresen seiner nach amerikanischem Vorbild eingerichteten Küche gesessen und Rührei mit Räucherlachs gegessen hatten, lümmelten sich Daisy und Raoul auf das gewaltige weiße Ledersofa, um ihren Kaffee zu trinken.
»Wenn Sie so weit sind, gehen wir ins Atelier. Das Licht ist dort viel besser.«
»Mich hat noch nie jemand gezeichnet«, meinte Daisy und war plötzlich nervös. »Wie genau läuft das ab? Sind meine Klamotten okay?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen anziehen, was Sie wollen«, erwiderte Raoul beruhigend. »Es ist ganz leicht. Ich möchte ganz einfach, dass Sie vor mir, ich glaube, stehen, nicht sitzen, genauso wie jetzt. Und Sie dürfen sich nicht zu viel bewegen.«
In dem sonnendurchfluteten Atelier hatte Daisy eine gute halbe Stunde auf einem weißen Holzwürfel gestanden, den einen Arm vor sich ausgestreckt, und hatte mit dem Finger auf einen imaginären Gegenstand gezeigt, die andere Hand in die Hüfte gestützt.
Während sie die gegenüberliegende Wand anstarrte, die Wand hinter Raoul, fiel ihr wieder ein, dass sie als Kind ein paar Asterixund Tim-und-Struppi-Hefte gelesen hatte. Es würde Spaß machen, sich wieder einmal so etwas anzuschauen.
Sie hatte Barbarella hinter sich gelassen und kam jetzt zu einem anderen Bild von einer wohlgeformten jungen Frau; diese hier stand in einem engen schwarzen Kleid mit tiefem Ausschnitt auf einen Friedhof und sah gleichzeitig verlockend und blutdürstig aus.
»Das ist Vampirella«, erklärte Raoul und legte Block und Stifte auf seinen Schreibtisch, »Aus einem amerikanischen Comic aus den Siebzigern. Ich finde sie toll.«
»Eine Freundin von mir spielt in London in einer Band, und eines von den anderen Mädchen aus der Band zieht sich oft so an. Sie sind Goths.«
»Wirklich? Hören sich ja ziemlich cool an, Ihre Freunde.«
»Raoul«, fragte Daisy aus einem Impuls heraus, »kann ich etwas von Ihren Arbeiten sehen, bitte? Ich finde das wirklich unheimlich interessant.«
»Sie sind ja so was von süß! Natürlich zeige ich Ihnen ein paar Sachen, wenn Sie wollen. Aber ich muss Ihnen sagen, das Zeug ist ziemlich erotisch. Das stört Sie doch nicht, oder?«
»Nein! Überhaupt nicht«, erwiderte Daisy mit fester Stimme, während sie innerlich eine Panikattacke von geradezu nuklearer Intensität durchmachte. »Ziemlich erotisch?« Liebe Güte, was genau sollte das heißen? Wie »extrem« waren Raouls Arbeiten? Sie setzte sich stocksteif aufs Sofa und sah zu, wie er ein paar Hefte von den Regalen nahm. Instinktiv raffte sie den Zigeunerrock enger um ihre Beine. Ach, komm schon, reiß dich zusammen!, befahl sie sich, sei nicht so prüde! Du schaffst das. Betrachte es als Test, ein Wendepunkt in deinem Jahr in Paris. Jetzt kannst du zeigen,
dass du genauso unbekümmert und nonchalant mit Sex umgehst wie die Franzosen. Alles wird gut.
»Et voilà!«, verkündete er und reichte ihr die Hefte. »Das hier sind die, die ich am liebsten mag. Möchten Sie eine Cola light oder so etwas?«
»Ja, bitte«, antwortete Daisy und sah erleichtert, wie er den Raum verließ. Also dann. Nervös warf sie einen Blick auf das Cover des ersten Heftes. Ein Mädchen in Piratenkluft stand am Steuer eines Schiffes. Sie trug Kniehosen und ein weites, weißes Hemd. Ihr langes Haar, das von einem schwarzen, von einem Totenkopf gezierten Kopftuch zurückgehalten wurde, flatterte im Wind. Nun, das war doch absolut in Ordnung . Der Titel lautete La Filibustière – Die Freibeuterin -, was ebenfalls in Ordnung war. Vorsichtig blätterte Daisy die ersten Seiten um. Die Geschichte spielte im 18. Jahrhundert. Die Heldin hieß Caroline, und sie wohnte in einen Château am Meer, irgendwo in der Nähe von La Rochelle. Raoul hatte wirklich ein tolles Auge für Farben, dachte Daisy, als sie die zarten Blau- und Rosaschattierungen von Carolines Kleid betrachtete. So weit, so gut. Sie blätterte eine weitere Seite um und ließ den Blick über die Sprechblasen wandern. Anscheinend hatten Carolines Eltern es so arrangiert, dass sie jemanden heiraten sollte, dem sie noch nie begegnet war, wie es damals üblich war. Wie schrecklich. Doch in der Nacht floh Caroline mit Hilfe ihrer Zofe aus dem Château; als Junge verkleidet kletterte sie aus dem Fenster.
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