High Heels und Gummistiefel
war in Gedanken, das war alles. Als sie in ihre Tasche griff, um ihr Buch herauszuholen, trafen Isabelles Finger auf etwas Glattes, Rundes, Samtiges – eine der Quitten war aus der Plastiktüte entkommen. Vorsichtig tat sie sie wieder zu den anderen, wühlte ihr Exemplar von Zärtlich ist die Nacht hervor, fand die Stelle, wo sie aufgehört hatte, und begann zu lesen.
Als sie in der Bibliothek in der Schlange stand, um ihren Mantel und ihren Regenschirm abzugeben, ertappte Isabelle sich dabei, wie sie das Bild an der gegenüberliegenden Wand betrachtete. Es war ein hässliches, aber nichtsdestotrotz faszinierendes trompe l’œil, das Reihen von Bücherregalen darstellte. Es war ihr schon früher aufgefallen, doch abgestoßen von den harten Linien und dem abgrundtief hässlichen Farbschema, hatte sie es sich niemals genauer
angesehen. Heute ging sie ganz nahe heran, bewegte sich dann langsam von rechts nach links und sah zu, wie die Regale wallten und sich ihr dreidimensional entgegenstreckten. Diese optische Illusion, stellte sie fest, wurde durch das Spiel der Winkel und der sich kreuzenden Linien erzeugt. Durchaus geschickt gemacht. Außerdem erinnerte sie das Ganze an etwas anderes. Isabelle kniff die Augen zusammen und biss auf ihrer Lippe herum, während sie versuchte, diese Erinnerung einzuordnen.
Als sie sich auf ihrem üblichen Platz im Raritätensaal niederließ, wusste sie plötzlich die Antwort. Sie hatte das schüchterne Begrüßungsnicken des Wolfmannes erwidert und ein Lächeln mit der Frau mit der Riesenfrisur und den Perlenketten gewechselt. Als sie aufblickte, sah sie »Miss Marple« in ihrem üblichen Tweedkostüm mit einem Stapel Bücher vom Ausleihtresen zurückkommen. Natürlich, das war es. Das Trickbild unten im Erdgeschoss erinnerte sie an das Gemälde von Meredith Quince. Das hatte irgendetwas mit der verzerrten Perspektive des Porträts zu tun: Einige der Bücherregale, von denen die Schriftstellerin umgeben war, sahen ein bisschen schief aus, als kämpften sie darum, dreidimensional zu sein, als wollten sie sich öffnen. Dann kam ihr blitzartig das Spiel Cluedo in den Sinn, und sie sah ganz deutlich den Grundriss auf dem Spielbrett vor sich, und am allerdeutlichsten das, was sie als Kind an dem Spiel am liebsten gemocht hatte: den Geheimgang.
Isabelles Mund wurde vor Erregung ganz trocken. Konnte das sein? Nun, warum nicht? Es war ein ziemlich altes Haus. Handelte es sich um so eine Drehwand, mit Büchern getarnt? Oder einfach nur um eine Tür? Wie entriegelte man sie? Im Film zog man meistens an einem Kerzenhalter. Isabelle schloss die Augen und versuchte, sich den Raum bildlich vorzustellen. Und wenn es dort eine Tür gab, was war dahinter? Ein geheimes Zimmer vielleicht oder eine Treppe, die... wohin führte?
Und was war mit Tom Quince – wusste er davon oder nicht? Unfähig, sich auf ihre Lektüre zu konzentrieren, sprang Isabelle auf und marschierte aus dem Lesesaal. Sie trank einen Schluck Wasser am Trinkbrunnen und ging dann auf dem Flur auf und ab. Aus einem Impuls heraus wählte sie Lucy Goussays Nummer auf ihrem Handy. Es wäre sehr hilfreich, wenn sie vor heute Abend noch einmal einen Blick auf das Porträt werfen könnte. Doch es war niemand zu Hause. Nun, egal, in ein paar Stunden würde sie die Realität betrachten können – den echten Raum in Merediths Haus.
Der Nachmittag zog sich endlos hin. Isabelle zwang sich, zu lesen und sich ein paar Notizen zu machen, doch das Resultat war mager und unverständlich. Sie würde sich ihre Bücher über die Geschichte des Varietés zurücklegen lassen und sie morgen noch einmal durchgehen müssen. Als es endlich Zeit war, ihre Sachen zu holen, und sie der Angestellten die Garderobenmarke reichte, drehte sie sich noch einmal um, um das trompe l’œil zu betrachten. Vielleicht war sie schlicht und einfach zufällig auf eine weitere bedeutungsschwangere Quince-Metapher gestoßen. Zuerst Bauchreden und jetzt das hier. Wie konnte man sich Merediths literarische Karriere besser vorstellen: Hinter Reihen von Büchern verborgen, die nur ein Vorwand waren – die Lady-Violet-Krimis -, lag, metaphorisch ausgedrückt, ein geheimer Raum, wo Meredith Quince The Splodge in Sicherheit gebracht hatte, und dort hatte das Buch darauf gewartet, triumphierend von einer hingebungsvollen Literaturwissenschaftlerin zutage gefördert zu werden – von ihr, Isabelle Papillon!
Isabelle ging in einer Art Trance im Regen auf Merediths Haus zu. Sie war
Weitere Kostenlose Bücher