Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
Madeleine ihre ganze Fantasie an, um ihre Cousine aus ihrer Erstarrung zu reißen, doch nichts fruchtete. Isabelle verweigerte jeden Kontakt mit der Außenwelt und verschloss sich in sich selbst. Wenn es niemandem gelang, sie aus ihrem verzweifelten Zustand zu holen, dachte Madeleine, würde sie bestimmt noch ihrem Vater und Marcelline ins Grab folgen. Dagegen wusste sie nur ein einziges Mittel …
Die junge Frau fand Alexander am oberen Ende der halsbrecherischen Treppe in die Unterstadt, wo er an einer Mauer lehnte und auf die stahlgrauen Fluten des Flusses hinaussah. Die Eisdecke war zerbrochen und damit die provisorische Brücke, so dass es keine Verbindung mehr zum Südufer gab. Madeleine hatte lange gezögert, bevor sie sich entschlossen hatte, den Soldaten aufzusuchen. Doch er war ihre letzte Hoffnung. Alexander fühlte sich beobachtet und drehte sich um. Zuerst wirkte er nur verblüfft, sie zu sehen. Dann malten sich Ernst, ja sogar Trauer auf seiner Miene. Er wandte sich ab und sah erneut in die Ferne. Zwischen den Liebenden musste etwas vorgefallen sein, und Madeleine begann schon daran zu zweifeln, ob sie das Richtige tat. Verlegen wollte sie sich entfernen, als er sie anrief.
»Hat sie Euch geschickt?«
»Nein. Es war meine Idee herzukommen.«
Sie tat einige Schritte auf ihn zu und stützte, genau wie er, die Ellbogen auf das hölzerne Geländer. Die ganze Stadt war erfüllt vom Gestank der verwesenden Leichen, die man im Winter nicht hatte begraben können und die nun mit der Schneeschmelze auftauten. Der Geruch war unerträglich. Madeleine trug stets ein mit Eau de Cologne getränktes Taschentuch bei sich, wenn sie das Haus verließ. Doch Alexander schien das nichts auszumachen; er sog die stinkende Luft in tiefen Zügen ein.
Nicht weit von ihnen pickten die ersten Rotkehlchen auf dem Boden und nahmen keine Notiz von ihnen. Man hatte die Bauarbeiten in der Unterstadt wieder aufgenommen, so dass die Straßen von ohrenbetäubendem Klopfen und Hämmern erfüllt waren.
»Schön. Warum seid Ihr also hier? Wollt Ihr mir eine Moralpredigt halten oder Euch bedanken, weil ich mich von ihr fernhalte?«
»Euch eine Moralpredigt halten? Warum sollte ich? Aber wenn ich Euch jetzt sagen würde, dass ich ärgerlich bin, weil Ihr sie im Stich gelassen habt?«
Alexander lachte ironisch auf und wandte sich halb zu Madeleine um. Die junge Frau konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er nicht frischer aussah als ihre Cousine. Wirklich, zwischen diesen beiden musste etwas geschehen sein.
»Wie geht es ihr?«
»Sehr schlecht, Monsieur Macdonald. Seit dem Tod ihres Vaters wird es jeden Tag schlimmer mit ihr.«
Er zog die Augenbrauen hoch.
»Ihr Vater ist gestorben?«
Er erinnerte sich vage, vom Tod eines reichen Kaufmanns aus der Stadt gehört zu haben. Aber er war so damit beschäftigt gewesen, die Trümmer seines Lebens aufzulesen, dass er nicht wirklich darauf Acht gegeben hatte. Eines Abends allerdings hatte ihn seine Patrouille an dem Haus in der rue Saint-Jean vorbeigeführt. Da er keinen Menschen sah, war er ans Fenster getreten und hatte es gewagt, einen Blick ins Innere zu werfen. Isabelle saß an einem Cembalo, und eine traurige Melodie schwebte durch den Raum. An die Mauer gelehnt, hatte der junge Mann gelauscht, und ihm war beinahe das Herz gebrochen. In der Musik hatte er den tief empfundenen Schmerz seiner Liebsten hören können und naiv geglaubt, der Grund dafür zu sein. Plötzlich war das Instrument mit einem Missklang verstummt. Er hatte gefürchtet, entdeckt zu werden, und sich entfernt. Dann hatte die junge Frau also an diesem Tag um ihren Vater geweint …
»Wann?«, erkundigte er sich mit besorgter Miene.
»Das wusstet Ihr nicht? Er ist am 7. April von uns gegangen. Und kurz zuvor ist ihre Freundin Marcelline gestorben. Ich fürchte um ihre Gesundheit. Sie isst nicht mehr, sie schläft nicht mehr. Ich hatte gehofft, Ihr könntet ihr helfen …«
»Dazu müsste sie erst einmal bereit sein, mich anzuhören.«
Von neuem sah er über die Unterstadt hinaus.
»Was ist geschehen? Habt ihr euch gestritten?«
Er gab keine Antwort, sondern zuckte nur müde die Achseln und verschränkte abweisend die Arme. Doch so leicht war Madeleine nicht loszuwerden; sie versuchte es noch einmal.
»Ihr müsst etwas für Isabelle tun, Monsieur Macdonald. Wenn Ihr sie wirklich liebt, wie Ihr behauptet …«
Er zuckte ein wenig zusammen und richtete den Oberkörper auf, so dass er starr wie eine
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