Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
über den Brief, den sie jetzt in ihrer Tasche immer bei sich trug; den letzten Brief von Peter Sheridan, ihrer einzigen Liebe. Er war zwei Monate nach ihrer Hochzeit verfasst… Wie war Charles-Hubert an ihre Korrespondenz gekommen? Wenn sie recht überlegte, konnte sie es sich denken. In La Rochelle hatte sie ihre Briefe in einer Hutschachtel versteckt. Dann, bei ihrer Ankunft in Québec, war sie zu krank gewesen, um ihr Gepäck selbst auszupacken, so dass er das übernommen hatte. Zweifellos hatte er sie zufällig entdeckt und anschließend aus Eifersucht an sich genommen. Eigentlich konnte sie ihm das nicht einmal verübeln.
Doch den Brief, der in den Tiefen ihrer Tasche knisterte, hatte sie nie in die Hand bekommen. Er hatte sich nicht in dem Stapel befunden, den sie bei dem Gedanken an ihre baldige Hochzeit mit Peter so oft an ihr Herz gedrückt hatte. Ihr Liebster hatte ihn ihr offensichtlich nach La Rochelle geschrieben, an die Adresse ihres Vaters. Wer ihr den Brief wohl nach Québec nachgeschickt hatte? Ihre Mutter? Sie würde es nie erfahren. Und wenn sie es gewusst hätte, dann hätte das auch nichts geändert. Der Brief war zwei Monate zu spät gekommen. Hätte ihr Vater doch nur gewartet! Sie hatte ihn so flehentlich darum gebeten. »Die Engländer halten ihr Wort nicht!«, hatte er gebrüllt. »Und ein Soldat erst recht nicht. Und so, wie die Dinge stehen, musst du einfach annehmen. Eine solche Gelegenheit wird sich gewiss nicht wieder bieten …« Ja, Isabelle würde sie genauso hassen, wie sie selbst ihren Vater verabscheut hatte. Die junge Frau konnte ja nicht verstehen, warum ihre Mutter so gehandelt hatte.
Der Schotte hatte aufgehört, an die Tür zu hämmern. Justine wagte nicht, aus dem Fenster zu schauen, um festzustellen, ob er immer noch auf der Straße stand. Sidonie saß in einer Ecke des Salons, strickte Babysöckchen und warf ihr Blicke zu, die überdeutlich zum Ausdruck brachten, was sie dachte. Sie verübelte es ihrer Herrin zutiefst, dass sie die junge Frau zu dieser Ehe gezwungen hatte. In der kommenden Woche würde Isabelles alte Amme zu den Ursulinen übersiedeln. Sie war Isabelle sicherlich eine bessere Mutter gewesen, als sie selbst es je war. Nun, da die junge Frau fort war … hielt sie nichts mehr hier.
Perrine war vor zwei Tagen geflüchtet und hatte nicht einmal ihren Lohn für die vergangenen zwei Wochen eingefordert. Die kleine Dirne war sicherlich zu Étienne gelaufen. Ihr Fehlen machte sich im Haushalt deutlich bemerkbar. Sidonie war zu alt, um alles allein zu bewältigen. Für den Übergang hatte Justine ein junges Mädchen eingestellt, das ihre Nachbarin ihr empfohlen hatte … In einigen Monaten würde das Problem sich ohnehin nicht mehr stellen.
Bekümmert raffte Justine mit einer Hand ihre Röcke und begab sich ins Arbeitszimmer ihres verstorbenen Gatten. Sie blieb im Türrahmen stehen und ließ bedrückt den Blick durch den Raum schweifen. Sie hatte ihre Entscheidung lange bedacht und würde sie nicht rückgängig machen. Jetzt hatte sie nur noch einen langen Brief zu schreiben.
Mit diesem Gedanken sperrte sie den Raum hinter sich ab, in dem noch Charles-Huberts moschusartiger Körpergeruch hing. Eigenartig, aber ihr Mann fehlte ihr. Er hatte sich immer darauf verstanden, ihr die Ängste mit einem freundlichen Wort oder einer zärtlichen Berührung zu nehmen, was sie heute schmerzlich vermisste. Trauer, nichts als Trauer über das Vergangene! Sie setzte sich in den Sessel und nahm ein Blatt Papier aus dem Schreibtisch aus blutrotem Kirschholz. Eine Träne fiel auf das Blatt, das dieses Zeugnis ihres Kummers gierig aufsog. Wie sollte sie beginnen?
Coll sah, wie sein Bruder stolperte, aufstand, weiterrannte und erneut stürzte. Als Isabelle sich so lange nicht gemeldet hatte, da hatte er schon etwas geargwöhnt, und anscheinend hatte er sich nicht geirrt. Er wusste nicht, was die alte Frau Alexander erzählt hatte. Doch die völlig aufgelöste Miene des jungen Mannes und seine heftige Reaktion verhießen nichts Gutes. Sein Bruder brauchte ihn.
Seine Schritte hatten ihn an den Rand des Steilhangs geführt. Alexander ließ sich auf die Knie fallen, umklammerte den Kopf mit den Händen und öffnete den Mund, um seinen vernichtenden Schmerz herauszuschreien. Doch nur ein langgezogenes, heiseres Stöhnen stieg aus seiner Kehle auf. Er hielt sich die Ohren zu, um die schrecklichen Worte nicht mehr zu hören, die sein Universum zum Einsturz gebracht hatten,
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