Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
seine völlig aufgelöste Miene sah, kam er zu ihm gelaufen.
»Sie haben… sie haben ihn… gefangen!«
»Wen haben sie gefangen? Wen? Alasdair? Sie haben Alas gefunden?«
Munro nickte heftig und rollte die großen, erschrockenen Augen. Die beiden Soldaten wussten genau, welche Strafe Alexander drohte. Ohne weitere Fragen zu stellen, folgte Coll seinem Cousin durch das abschüssige Labyrinth der Gassen von Québec bis zum Großen Platz. Eine Menschenmenge hatte sich um einen von zwei Pferden gezogenen Schlitten, ein Sleigh , versammelt. Im hinteren Teil des Fahrzeugs lag ein in Ketten geschlagener Mann, dessen eine Gesichtshälfte mit getrocknetem Blut verkrustet war. Coll versuchte sich einen Weg zu ihm zu bahnen, wurde aber grob zurückgestoßen.
»Alas!«, schrie er über die Menge hinweg. »Alasdair!«
Alexander erkannte die Stimme seines Bruders und hob den Kopf. Das Klirren der Kette hallte schmerzhaft in seinem Schädel wider, und er stöhnte. Als er sich ein wenig aufrichtete, konnte er Coll sehen. Er sah, dass seine Lippen sich bewegten, doch durch den ohrenbetäubenden Lärm ringsum verstand er nicht, was er rief. Dann las er das Wort »warum« von seinen Lippen. Weil ich mich so entschieden habe, antwortete er ihm lautlos. Er lächelte. Der Offizier beendete seine Verlesung der Anklagepunkte gegen den Gefangenen. Dann fuhr der Sleigh wieder ab. Man brachte Alexander ins Gefängnis der Intendantur.
Die Hände im Nacken verschränkt, betrachtete Alexander einen Riss in der gegenüberliegenden Wand. Er konnte nicht mehr schlafen. Ständig musste er an John denken. Unaufhörlich drehten sich seine Gedanken um die vergangenen Wochen und alles, was geschehen war, seit er im Schnee eingeschlummert war.
In den ersten Tagen nach seiner Rettung hatte er in seinem Fieberwahn immer wieder kurze lichte Momente gehabt. Da hatte er gespürt, dass ein Blick auf ihm ruhte und eine Hand beruhigend über seine malträtierte Haut glitt. Da hatte er noch nicht gewusst, wer bei ihm wachte, aber diese stumme Gegenwart hatte ihn getröstet. Dann war eine Stimme aus dem Dunkel gekommen, und er hatte John erkannt. Sein Bruder hatte das Lied gesummt, das sie als Kinder gemeinsam zu singen pflegten, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwand und ihr Tal mit Gold übergoss. Während dieser ganzen Zeit, in der er bei ihm saß, hatten sie kein einziges Wort gewechselt. Aber diese unsichtbare Verbindung zwischen ihnen war wieder da gewesen, das hatte er gespürt… genau wie früher. Erinnerungsfetzen waren in ihm aufgestiegen, und er hatte daran gedacht, wie sie sich einst ohne Worte verstanden hatten.
Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen. Wie oft hatten sie sich als Kinder damit unterhalten, ihre Umwelt zu verwirren und sich wechselseitig füreinander auszugeben? Das war ihnen leichtgefallen; ihre Gedanken liefen auf die gleiche Weise ab, ganz natürlich. Dann war diese Verbindung zerrissen. Wann war das gewesen, und warum? Er wusste es nicht mehr genau. Seit dem Tod von Großvater Liam vielleicht? Ja, seit diesem Tag hatte ihre Beziehung sich verändert. Aber steckten wirklich die Beweggründe dahinter, die er argwöhnte?
John war fortgegangen, bevor er mit ihm hatte sprechen können. Das hätte eigentlich seine Vermutung bestätigen müssen, dass sein Bruder ihm immer noch grollte. Doch da passte etwas nicht zusammen: Warum hatte John ihm dann das Leben gerettet, obwohl er ihn einfach im Schnee hätte liegen lassen können, damit die Natur seinen versuchten Brudermord vollendete? Vielleicht hatte er ja das Bedürfnis, seine Rache selbst auszuführen und sein Blut fließen zu sehen.
Doch er hatte den Eindruck, dass John ebenso vor ihm flüchtete, wie er vor ihm geflohen war. Er hatte eine tiefe Trauer bei seinem Bruder wahrgenommen. Was mochte der Grund dafür sein? Plagten ihn Gewissensbisse? Er hätte gern gewusst, was John am Todestag von Großvater Liam gesehen hatte, und auch, was wirklich auf der Ebene von Drummossie Moor geschehen war. Seltsamerweise widersprach Johns Verhalten allem, was er immer geglaubt hatte.
Ein schrecklicher Zweifel stieg in ihm auf und stellte alles in Frage, woran er glaubte. Und wenn er sich geirrt hatte? Wenn er sein Leben damit vergeudet hatte, sich Dinge einzubilden und zu glauben, dass andere ihm grollten? Wenn er seine Ungeheuer, seine Ängste und alles, was ihm im Weg stand, selbst geschaffen hatte? Seine Finger hatten sich um seinen Hals gekrallt, und aus seinen vor
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