Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
sein Blick war glasig. John erstarrte und hielt den Atem an. Die blauen Augen richteten sich auf ihn. Er wartete und glaubte, den Bruchteil einer Sekunde lang ein besonderes Licht darin aufblitzen zu sehen. Doch Alexander zeigte keine weitere Reaktion, und seine Lider schlossen sich erneut.
Seufzend betrachtete John den blutigen Verband an der linken Hand seines Bruders. Allein der Anblick der Verstümmelung tat ihm weh. Wenn er die Hand mit ihm hätte tauschen können, er hätte es getan.
Er kramte in seiner Schultertasche und zog eine Miniatur hervor, das Porträt einer Frau. Die Augen waren von einem sehr hellen Blau, das von einem dunkelblauen Rand umgeben war, und besonders gut getroffen. Betrübt strich John mit dem Finger über die Züge des geliebten Gesichts, an das er so oft am liebsten das seine geschmiegt hätte. Dann legte er das Porträt auf das Bett, unter Alexanders gesunde Hand.
Erneut steckte er die Hand in die Tasche und zog einen Louisdor, sechs französische Pfund und zehn Sous hervor. Er zögerte. Wenn man einen so hohen Geldbetrag bei einem Deserteur fand, würde man ihn ganz gewiss des Diebstahls bezichtigen. Widerwillig behielt er den Louisdor und steckte den Rest in den Sporran seines Bruders, den er dann wieder auf das sorgsam zusammengefaltete Plaid legte.
Nach langem Überlegen hatte er seine Entscheidung getroffen. Wozu sollte es gut sein, all diesen Staub aus vielen Jahren wieder aufzuwirbeln? Das würde sie noch weniger in die Lage versetzen, klar zu sehen. Und außerdem hatte ihn die kalte, distanzierte Haltung, die Alexander seit ihrer Begegnung auf der Martello an den Tag gelegt hatte, davon überzeugt, dass er ihn nicht wiedersehen wollte. Er erriet den Grund und hatte beinahe Verständnis dafür. Nun, da er wusste, dass sein Bruder gesund und in Sicherheit war, konnte er zum Témiscamingue-See aufbrechen. Er hatte seine Expedition schon zu lange aufgeschoben; die Männer wurden ungeduldig. Michel und Joseph hatten die Fallen und ihre ganze Ausrüstung überprüft. Kleiner Wolf und sein Bruder, Le Chrétien, hatten sich um die Hunde gekümmert. Lebarthe hatte Vorräte und Munition aufgestockt. Er selbst hatte zusammen mit Cabanac die Route für die kommenden Monate festgelegt. Kurz gesagt, alles war bereit.
Morgen bei Tagesanbruch würde er sich nach einer letzten Nacht in den Armen der freundlichen Marie-Anne wieder auf die Reise machen. Für Alexander und ihn trennten sich hier ihre Wege; jeder würde sein eigenes Leben weiterführen. Ob er seinen Bruder jemals wiedersehen würde? Er bezweifelte es. Das Herz war ihm schwer, als er sich über den Verletzten beugte und ihn auf den Mund küsste. Dann wischte er sich eine Träne ab und summte eines ihrer alten Lieder vor sich hin.
»Gleann mo ghaoil, is caomh leam gleann mo ghràidh, an gleann an Fhraoich bi daoine, ’fuireach gu bràth … Beannachd, Alasdair. « Mein süßes Tal, ich liebe mein wunderbares Tal, in diesem Tal wird das Volk der Heide bis in alle Ewigkeit leben… Lebe wohl, Alexander …
Ihre Hände waren sanft, und das warme Wasser tat ihm gut. Die junge Frau tupfte seine Haut mit einem sauberen Tuch ab. Dann fuhr sie mit dem Finger in einen Topf, der ein grünliches, ein wenig streng riechendes Fett enthielt, und verteilte etwas davon vorsichtig auf seinem Fingerstumpf. Wie immer seit inzwischen zehn Tagen sah Alexander ihr schweigend zu. Er nutzte die Gelegenheit, um ihren nackten Hals zu beobachten, über den ein paar lose braune Haarsträhnen fielen, und die Kurven ihrer Brust, die in den Tiefen ihres Mieders, das sie ein wenig gelöst hatte, verschwanden.
»So«, schloss Marie-Anne und wischte sich die Hände an der Serviette ab, »Eure Genesung ist auf dem besten Wege. Ihr habt wirklich Glück gehabt, dass Ihr Euren Unfall ohne weitere Blessuren überstanden habt.«
Konnte man das wirklich Glück nennen? Er dachte an die Hand von Pater O’Shea, an der zwei Finger gefehlt hatten. Nun ja… es gab Schlimmeres, als einen Finger zu verlieren, da hatte sie wohl recht. Doch leider nahm das nicht die Last von ihm, die auf seiner Brust lag. Tatsächlich hätte er es vorgezogen, dort im Schnee zu sterben, für immer einzuschlafen. Doch auf geheimnisvolle Weise flohen ihn sowohl der Tod wie das Glück.
Die Frau hatte den Kopf zur Seite geneigt und betrachtete ihn mit einem seltsamen Blick. Sie hatte sich eine bunte Seidenblume an ihr Mieder gesteckt, direkt neben den Ausschnitt… um seine
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