Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
alles, was sich bewegte, und Alexander hatte nur sein Taschenmesser. Sein Magen krampfte sich zusammen, wenn er die Karren vorbeirumpeln hörte, von denen er wusste, dass sie mit Nahrungsmitteln beladen waren. Dann wartete er und kam erst wieder aus seinem Unterschlupf hervor, wenn das Stampfen der Stiefel und das Klirren der Pferdegeschirre in der Ferne verklungen waren.
Zwei Monate dauerte es, bis der junge Mann die Umgebung von Glencoe erreichte. Dort erhob sich der Kegel des Buachaille Etive Mor genau wie früher und wachte noch immer über den Eingang des Tales. Seit drei Tagen strich er nun schon gequälten Geistes hier herum. Er lag in dem fetten Gras, atmete tief ein und schloss die Augen. Ein Adler überflog diesen Teil der Ebene von Rannoch Moor, die unter einer bleiernen Sonne lag. In der erstickenden Julihitze zirpten die Grillen ohne Unterlass. Der Vogel stieß seinen rauen Schrei aus, der durch die Lüfte hallte. Alexander pochte das Herz in der Brust, und in seinen Schläfen pulsierte das Blut. Was würde er am Grund seines Tals vorfinden?
Schließlich erhob er sich und schlug mit zögernden Schritten den Weg ein, der ihm einst so vertraut gewesen war. Tausend Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, und sein Körper war vor Angst wie erstarrt. Ein- oder zweimal blieb er stehen, kurz davor, wieder umzukehren, und führte Selbstgespräche, um seine düsteren Gedanken zu verscheuchen. Er dachte an seine Mutter und sagte sich, dass er unbedingt wissen musste, was auf dem Schlachtfeld von Drummossie Moor wirklich geschehen war.
So wanderte er am Coe-Fluss entlang, bis er die schmalste Stelle des Tals erreichte. Dann beschloss er, wieder in die Berge hinaufzusteigen, um nicht gesehen zu werden. Seine Zweifel waren immer noch da, aber er ging weiter und kam immer näher. Bald erschien der kleine Loch Achtriochtan, der ruhig und still dalag und aussah, als wäre er zwischen den steilen Hängen des Aonach Dubh und des Sgòr nam Fionnaidh aufgehängt. Da waren ein paar Katen, die verlassen wirkten; einige von ihnen hatten kein Dach mehr und waren rauchgeschwärzt. Die Soldaten hatten den Clan von Iain Abrach nicht verschont. Alexander war bestürzt. Was war aus seiner Mutter geworden, seiner Schwester, seinen Brüdern und … seinem Vater? Waren sie weggeführt und deportiert worden wie so viele andere, oder waren sie in die Berge geflohen?
Die halb in den Hang hineingebaute Kate seines Vaters stand noch. Alexander fühlte sich mit einem Mal von einer unbeschreiblichen Empfindung ergriffen, die ihm die Brust zusammenpresste und ihn nicht normal atmen ließ. Er fühlte sich so aufgewühlt, dass er am liebsten geflüchtet wäre. Vorsichtig stieg er den Abhang hinunter, bis er nur noch wenige Schritte von der Hütte entfernt war. Als er von drinnen Stimmen vernahm, erstarrte er und meinte, sein Herz müsse stehen bleiben. Da er sich nirgendwo verbergen konnte, legte er die letzten paar Fuß zurück, die ihn von der Kate trennten, und wartete im Schutz der Wand. Er hatte das Gefühl, einen Klumpen in der Magengrube sitzen zu haben.
Die Stimmen drangen nur leise zu ihm, aber er erkannte die von Coll, obwohl sie tiefer klang als in seiner Erinnerung. Wie alt war sein Bruder noch? Ein Jahr älter als er, damit musste er heute sechzehn sein. Eine Frau war bei ihm. Herrje, Coll! Was für ein Schürzenjäger! Einige Minuten vergingen, ohne dass er sie erneut hörte. Dann bewegte sich etwas durch sein Blickfeld, und er sah Colls feuerrote Haarmähne vorbeihuschen. Wie groß er geworden war!
Die Frau, die ihm folgte, strich ihm tröstend über den Rücken. Als Coll sich umdrehte, um mit ihr zu sprechen, erstarrte er und sah in die Richtung, in der sich Alexander befand. Dieser drückte sich an die Mauer und hielt die Luft an. Mit einem Mal waren all seine guten Absichten verflogen, genau wie der Mut, den er sich auf seinem langen Weg selbst zugesprochen hatte. Plötzlich hatte er nicht mehr die Kraft, seiner Familie entgegenzutreten. Wie naiv er gewesen war! Zu glauben, alles könne wieder wie vorher werden … Außerdem war er sich nicht einmal sicher, ob ihm das recht wäre. Hier würde er immer der Fremde sein.
Coll wischte sich die feuchten Augen, beobachtete aber weiterhin die Stelle, an der er eine Bewegung wahrgenommen hatte. Wahrscheinlich ein kleines Tier; jedenfalls hoffte er das. Wachsam wandte er sich ab, nahm den Arm seiner Gefährtin und drängte sie zu einer rascheren Gangart. In der letzten
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