Highland-Saga 03 - Schild und Harfe
im Pelzhandel betätigte.
»Es ist schon ziemlich spät. Ich fürchte, dein teurer des Méloizes kommt heute Abend nicht mehr.«
Isabelle hatte Nicolas fast vergessen. Jetzt warf sie einen panischen Blick zur Standuhr: Viertel nach elf. Hatte er sie vergessen, oder hatte die Besprechung beim Generalstab länger als vorgesehen gedauert? Warum hatte er ihr dann keine Nachricht geschickt, um sie über seine Verspätung zu unterrichten? Träge erhob sich ihr Vater, und sein Körper knackte wie ein alter Schiffsrumpf, der viel zu oft starkem Seegang ausgesetzt gewesen ist.
»Ich glaube, ich gönne meinen alten Knochen Ruhe. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Er wies auf Sidonie, die auf ihrem Stuhl saß, krauste die Nase und zog die Augen zusammen.
»Geht Ihr nur schlafen. Ich kümmere mich um sie.«
Er nickte schwerfällig und küsste die junge Frau auf die Stirn.
»Einverstanden. Gute Nacht, mein Schatz.«
»Gute Nacht, Papa.«
Die Treppenstufen knarrten unter Charles-Huberts Schritten. Isabelle trat an den Kamin, um die Wärme des Feuers zu genießen. So stand sie da, den Blick in den Flammen verloren. Eine Woge der Traurigkeit überkam sie. Was für ein trübsinniges Ende für einen Tag, der doch so schön begonnen hatte! Étienne hatte eine Katastrophe aus ihrem Geburtstagsessen gemacht, und zu allem Unglück war Nicolas nicht aufgetaucht. Wirklich, dies war ein sehr betrüblicher Tag gewesen.
Matt ließ die junge Frau sich in den Sessel fallen. Sidonie schnarchte immer noch. Die gute, liebe Mamie Donie! Sie war ihr wahrscheinlich mehr eine Mutter, als Justine es je sein würde. Es war Isabelle nie gelungen, eine herzliche Beziehung zu Justine aufzubauen. Anscheinend war nichts, was sie tat, ihr jemals gut genug. Ohne Unterlass lag ihre Mutter ihr mit ihren ewig gleichen Litaneien über ihre Haltung, die Qualität ihrer Handarbeiten und sogar ihre Sprache in den Ohren. Du redest wie ein Fuhrmann, Isabelle! Sieh dich doch an, man möchte meinen, du hättest dich den ganzen Tag lang im Straßenstaub gewälzt wie eine kleine Landstreicherin!
An manchen Tagen wäre sie lieber ein Waisenkind gewesen wie ihre Cousine Madeleine. Der Gedanke tat ihr immer sofort leid, weil sie wusste, dass Madeleine sie ihrerseits beneidete, weil sie eine Mutter hatte, die sie umarmen konnte … Doch Justine neigte nicht zu Zuneigungsbekundungen. Wann hatte sie die junge Frau zum letzten Mal herzlich in den Arm genommen oder ihr einfach ein paar Worte zugemurmelt, die ihre Gefühle für sie zum Ausdruck brachten? Vielleicht wenn sie, Isabelle, ein Junge gewesen wäre … Guillaume und Ti’Paul gegenüber gestattete sich Justine öfter eine liebevolle Geste. Die junge Frau war nicht wirklich eifersüchtig auf ihre Brüder, aber… Gott sei Dank wurde sie durch die Liebe, die ihr Vater ihr entgegenbrachte, reichlich entschädigt.
Sidonie stöhnte und bewegte sich auf ihrem Stuhl. Vielleicht war es Zeit, sie zu wecken und schlafen zu gehen. Isabelle stand auf. Gerade wollte sie die Kerze löschen, als sie eine Kutsche die Straße entlangfahren hörte. Sie warf einen Blick aus dem Fenster, doch es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Sie wartete einen Moment. Stimmen ließen sich vernehmen. Ob das Nicolas war? Aber es war schon so spät…
Ohne weiter nachzudenken, lief sie zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Im Licht der Lampen an der Kutsche unterschied sie drei Gestalten. Eine davon löste sich von den anderen, ein Mann, mittelgroß, aber von kräftiger Statur. Er schien zum Haus zu sehen, rührte sich aber nicht. Nachdem er einige Sekunden gezögert hatte, drehte er um. Der Mann wollte wieder in die Kutsche steigen, sprach aber zuvor noch einen seiner Begleiter an. Er war es, sie hatte seine Stimme erkannt! Es war Nicolas! Aber … schickte es sich für sie, um diese Uhrzeit auf die Straße zu laufen?
Sie schlug alle Anstandsregeln in den Wind, hüpfte lebhaft nach draußen und blieb dann unentschlossen auf der letzten Treppenstufe stehen. Sollte sie ihn anrufen? Des Méloizes wandte sich um.
»Mademoiselle Lacroix?«
»Seid Ihr das wirklich, Monsieur des Méloizes?«
Er trat näher, hielt jedoch einen gewissen Abstand zwischen ihnen. Im Mondschein erkannte Isabelle sein Lächeln wieder. Den Dreispitz unter den Arm geklemmt, verneigte er sich tief.
»Mademoiselle Lacroix, es tut mir … aufrichtig leid, Euch warten lassen zu haben. Ich bin länger als gedacht aufgehalten worden, und es war mir unmöglich, Euch
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